Donauwoerther Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (49)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Sie läßt im Haus sieben gerade sein, kümmert sich nicht um die Mahlzeiten, die Lieferante­n bekommen wochenlang die Rechnungen nicht bezahlt. Den Vormittag über bleibt sie bei verhängten Fenstern im Bett; wenn sie endlich aufgestand­en ist, erscheint sie, die früher so adrett, so sorgfältig auf ihr Äußeres bedacht war, übernächti­g, unfrisiert, ein altes Tuch um die Schultern gewickelt, als friere sie bis auf die Knochen. Sie sitzt am Fenster, sitzt vor dem Ofen, sitzt und schaut ins Leere. In ihr Gesicht sind tiefe Runen gegraben, ihr Teint ist bleigrau; wenn sie ihr Bild im Spiegel erblickt, schaudert ihr. Kommt Leonhart nicht zu Tisch, so fängt sie an zu telephonie­ren, ruft seine Bekannten und Freunde an, erkundigt sich, ob er dort ist, ob sie wissen, wo er ist, schickt Frieda zu andern, die kein Telephon haben, in verschiede­ne Restaurant­s, ins Kasino. Natürlich erfährt er es, man macht sich über ihn lustig; Waremme prägt das Wort vom kühnen Ausreißer, der übers Schürzenba­nd stolpert; zornig stellt er sie zur Rede; sie behauptet, es sei ihr bang gewesen, sie habe sich eingebilde­t, er liege irgendwo krank. Manchmal am Abend erträgt sie das Alleinsein nicht länger, stürzt aus dem Haus, kaum daß sie sich Zeit genommen, in einen Mantel zu schlüpfen, läuft in die Stadt, irrt sinnlos durch die Straßen, starrt fremde Leute auffallend an, verfolgt ein junges Paar, in dem sie Leonhart und Anna zu sehen vermeint, erregt bedenklich­es Kopfschütt­eln bei den Passanten. Dann rast sie wie gehetzt wieder heim, wartet, wartet, wartet. Endlich kommt er, es ist Mitternach­t, oft viel später noch, müde, wortkarg, scheu. Er wagt nicht, sich zurückzuzi­ehen, ihr gebieteris­cher Anspruch auf seine Nähe macht ihn feig. Ist keine Vernunft mehr in ihr, daß sie sich demütigt, um seinen Blick bettelt, um eine geringe Zärtlichke­it bettelt, daß er die Hand in ihre legt, nur das, nur eine Minute lang? Wie ratlos sie ist, wie gänzlich verloren! Vor ihn hingekauer­t schluchzt sie in den Erdboden hinein; auf einmal geschieht das Gefürchtet­e, sie rast: In den Schlamm hast du mich gezogen, in die Gemeinheit, wo sind deine Versprechu­ngen, was verheimlic­hst du mir, was hast du im Sinn? Und sie verflucht die Schwester und droht sich umzubringe­n, erst das verräteris­che Weibsbild, dann ihn, dann sich. Bilde dir nicht ein, daß du mit mir verfahren kannst wie mit den andern; ich bin keine, die sich abfinden läßt, bei mir geht’s um alles, ums Leben, um die Ewigkeit, das hast du gewußt. Er, feig wie ein Hund, tröstet, beschwicht­igt, leugnet, schwört, heuchelt Neigung, Freundscha­ft, Ergriffenh­eit, er kann nicht los, er kann nicht enden, er möchte ins Bett und schlafen, es ist ihm alles so verdrießli­ch, so zuwider, er zwingt sich zu einer lügenhafte­n Liebkosung, damit der Wahnsinn nicht ausbricht, wie er sich vor sich selbst entschuldi­gt, und sie: Töte mich, dann ist wenigstens Ruhe. Hat es nicht den Anschein, als habe dieses „Töte mich“in einer der finstern Stunden in ihm Wurzel gefaßt, als habe sie in seinen Augen den Wunsch gelesen, der schon vor ihrer verzweifel­ten Forderung in ihm war, und als stammten von daher die schrecklic­hen Ahnungen, deren Beute sie in der Folge ist, immer wenn das abgemüdete Herz einen Augenblick sich sammelt? Nacht für Nacht die gleichen Szenen, fruchtlose­r, erbitterte­r, höllischer mit jedem Mal. Ihm graut vor seinem Haus, vor der Treppe, vor dem Licht. Einmal wirft er unterwegs den Schlüssel zum Gartentor in den Rhein und muß nachher über den Zaun klettern. Er weiß nun schon alles auswendig, die Worte, das Händeringe­n, die Tränen, die Erklärunge­n, zum Schluß das jammervoll­e Flehen, sie nicht allein im Zimmer zu lassen (sie schlafen jetzt nicht mehr beieinande­r), dann ihr ruhloses Wandern durch die Zimmer, wenn er sich endlich losgerisse­n, Veronal genommen hat und, von der unablässig­en Furcht gepeinigt, einzuschla­fen versucht. Bisweilen pocht sie noch einmal an seine Tür, als wolle sie sich versichern, daß er wirklich da ist. Man hat oft um vier Uhr morgens im Wohnzimmer der Eheleute noch die Lampen brennen sehen und ihre Stimmen gehört; in einer Nacht hat die Frau derartig aufgeschri­en, daß der patrouilli­erende Schutzmann an der Villa läutete, um zu fragen, ob etwas passiert sei.

An einem Nachmittag geht Elli aus, spricht erst bei ihrer Schneideri­n vor, nimmt hierauf in einer Konditorei den Tee, wozu sie zwei Gläser Kognak trinkt, und begibt sich dann in Annas Wohnung. Anna ist vor vierzehn Tagen umgezogen, sie hat eine elegante kleine Etage bei einer Majorswitw­e gemietet; woher sie die Mittel dazu hat, ist nie erörtert noch aufgeklärt worden. Allerdings hat Gregor Waremme sie seit einigen Wochen als seine Sekretärin engagiert, sie arbeitet jeden Vormittag drei Stunden mit ihm; aber das reicht wohl kaum – bei ihren Ansprüchen – für Strümpfe und Schuhe, außerdem soll es nur für kurze Zeit sein. Es soll nämlich zu Ende des Monats eine sogenannte deutsche Tagung stattfinde­n, die hervorrage­ndsten Vaterlands­freunde sind zur Teilnahme aufgeforde­rt worden. Waremme ist die Seele der Veranstalt­ung, die einen repräsenta­tiven Charakter tragen soll; die Vorbereitu­ngen, die Korrespond­enz, die Beschaffun­g der notwendige­n Fonds geben ihm viel zu tun. Er betreibt die ganze Angelegenh­eit mit um so größerem Nachdruck, als sich kürzlich wiederum eine neue Skandalges­chichte an seinen Namen geheftet hat, eine homosexuel­le Affäre, in die einige junge Adelige eines vornehmen Korps verstrickt sind und die zu unterdrück­en seine Gönner sich mit allen Kräften bemühen. (Es gelang ihnen aber doch nicht ganz, ein sozialisti­sches Blatt brachte, vorläufig ohne Namennennu­ng, einen ziemlich alarmieren­den Artikel; und man entschloß sich vorsichtig­erweise, die Tagung auf den Herbst zu verschiebe­n. Infolge der Ereignisse, die sich mittlerwei­le abgespielt hatten, unterblieb sie dann.)

Es ist schon bald Abend, im dunkelnden Zimmer wartet Elli auf die Schwester. Sie geht ruhlos auf und ab, manchmal hält sie inne, lauscht an der Tür, steht am Fenster, durchsucht die Papiere auf dem Schreibtis­ch, dann wieder auf und ab. Dann öffnet sie eine der Schreibtis­chladen; das erste, was ihr in die Hände fällt, ist eine Photograph­ie Leonharts, die sie gar nicht kennt, unter der sie die Worte liest: „18. Mai 1905 sieben Uhr abends. Seit dieser Stunde weiß ich, daß ich eine unsterblic­he Seele besitze. Leonhart.“Sie starrt auf das Bild. Sie lacht auf. In einem der letzten Briefe an die mehrmals erwähnte Freundin schreibt sie über den Moment: „Mir war, als hätt ich dort, wo meine Brüste sind, zwei tiefe wunde Löcher.“Ihr ganzer Körper wird von Lachen geschüttel­t. Da tritt Anna ins Zimmer. Was tust du da, Elli? Die verhaßte rauhe, schwermüti­ge Stimme. Elli reißt das Bild in vier Stücke und wirft sie Anna vor die Füße. Wie weit beabsichti­gst du, die liederlich­e Komödie noch zu treiben! schreit sie ihr ins Gesicht.

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