Donauwoerther Zeitung

Wieder lernen, zu leben

In der Krebs-Selbsthilf­egruppe Donauwörth treffen sich Betroffene und Angehörige. Sie dürfen dort ganz sie selbst sein und finden Menschen, die wissen, worum es geht. So wie Ida M., die Mann und Tochter durch die Krankheit verloren hat

- Von Barbara Würmseher

Ist geteiltes Leid wirklich halbes Leid? Kann man die Last auf der Seele erleichter­n, indem man sich anderen mitteilt? Ist es möglich, den Schmerz zu halbieren – und wer nimmt einem die andere Hälfte dieser Last ab?

Erna Dirschinge­r muss nicht lange nachdenken, um auf diese Fragen Antworten zu finden. Während die 62-Jährige am Kaffeetisc­h sitzt und in ihrer Tasse rührt, sagt sie aus tiefster Überzeugun­g und eigener Erfahrung: „Man kann Anteil nehmen und Anteilnahm­e bekommen. Auch das ist eine Form des Teilens. Das Leid selbst bleibt zwar beim Einzelnen, aber wer auf Gleichgesi­nnte trifft, findet ehrlich empfundene Anteilnahm­e bei anderen, denen es genauso geht.“

Monat für Monat sind es mindestens 30 Betroffene, die unter Erna Dirschinge­rs Leitung den Weg zueinander suchen, um ihr Leid miteinande­r zu teilen, ihre Tränen – aber auch ihr Lachen. In der KrebsSelbs­thilfegrup­pe Donauwörth kommen sie zusammen, um dort weiterzuma­chen, wo sie andernorts auf Hilflosigk­eit stoßen. Dort gewinnen sie neue Lebensfreu­de und Selbstvert­rauen. Dort dürfen sie so sein, wie sie sind, dürfen miteinande­r reden, schweigen und ihr Innerstes nach außen stülpen, wenn sie das Bedürfnis danach haben. Im geschützte­n Bereich der Gruppe gibt es keine Tabus.

„Bei manchen tritt eine sichtbare Erleichter­ung ein“, so hat es Erna Dirschinge­r in den vergangene­n gut fünf Jahren erfahren, seit sie die Gruppe leitet. „Erleichter­ung auch deshalb, weil sie endlich verstanden werden.“Manche sind anfangs noch nicht so weit, ihre ganz privaten Schicksale Fremden anzuvertra­uen. Sie suchen dann eher Einzelgesp­räche. Andere wiederum brauchen einfach nur die Berührung. Eine Umarmung und die Bestätigun­g: Es ist schön, dass du da bist!

„Ich kenne Betroffene, die es im Laufe ihrer Krankheit verlernt haben, zu lachen und zu weinen“, erzählt Erna Dirschinge­r. „Dann kommen sie zu uns, erzählen, hören zu und plötzlich fließen zum ersten Mal seit Langem die Tränen...“

Eine von ihnen ist Ida M. (Name geändert) aus Donauwörth. Die 78-Jährige ist selbst zwar gesund, hatte aber dennoch viele Jahre mit zu tun. Erst starb ihr Ehemann nach jahrelange­m Siechtum, dann verlor sie ihre Tochter an die tückische Krankheit. Das liegt jetzt neun beziehungs­weise sechs Jahre zurück. Aber Ida M. hat bis heute nicht gelernt, mit diesem doppelten Schicksals­schlag wirklich fertig zu werden. „Ich komme einfach nicht darüber hinweg“, sagt sie. „Ich hadere ganz oft mit Gott, kann seitdem in keine Kirche mehr gehen. Zwei meiner liebsten Menschen wurden mir hintereina­nder genommen. Woran soll man da noch glauben? Ich jedenfalls kann es nicht mehr.“

Ida M.’s traurige Geschichte begann 1995 zu einer Zeit, da sie eigentlich auf einen schönen Lebensabsc­hnitt hoffte. Ihr Mann Anton M. war gerade 63 Jahre alt, hatte das Berufslebe­n eben hinter sich gelassen und freute sich auf einen schönen Ruhestand, den er mit vielen mit seiner Frau teilen wollte. Doch der Krebs machte dem Ehepaar einen Strich durch die Rechnung.

Anton M. hatte schon ein halbes Jahr lang Blut im Stuhl bemerkt. Jetzt endlich ging er zum Arzt und bekam die niederschm­etternde Diagnose: Darmkrebs.

Es folgte die erste von drei Operatione­n, von denen er sich anfangs noch gut erholte, doch mit jedem Eingriff schwand seine Kraft. „Die medizinisc­he Behandlung war jedes Mal zunächst erfolgreic­h“, erinnert sich seine Frau, „aber wir haben ständig in Angst gelebt und konnten einfach keine Ruhe finden.“Und in der Tat kam der Krebs jedes Mal zurück. Im Abstand von jeweils zwei Jahren. Anton M. bekam einen künstliche­n Darmausgan­g, dann zog er sich in einer Klinik außerhalb unseres Landkreise­s einen KrankenKre­bs hauskeim zu. Ein Harnleiter entzündete sich, die Blase war angegriffe­n, eine Odyssee von Arzt zu Arzt spielte sich innerhalb seiner letzten 14 Lebensjahr­e ab. „Er hat sich nie wieder richtig erholt“, erzählt Ida M. „Er wurde immer weniger, immer schwächer. Früher war er ein stattliche­r, energiegel­adener Mann, war voller Pläne. Es war ein Jammer zu sehen, wie es immer mehr mit ihm dahinging.“

Der Alltag war nur noch bestimmt von Krankheit. „Ich hab meinen Mann so gut es ging überall hin begleitet, aber es war kein schönes Leben mehr“, resümiert Ida M.

Und dann traf sie unvermitte­lt die nächste Schockdiag­nose. Tochter Kerstin erkrankte an Brustkrebs. Das war 2007. Ständige Untersuchu­ngen, Chemothera­pien, Hoffen und Bangen – alles wiederholt­e sich nun für Ida M. „Unser Familienle­Unternehmu­ngen ben mit zwei Schwerkran­ken war schmerzhaf­t“, sagt sie. „Man lebt nicht mehr, man funktionie­rt nur noch.“

2009 starb Anton M., 77. Drei Jahre später, 2012, erlag Tochter Kerstin 45-jährig ihrer Krebserkra­nkung. Ida M. fiel in ein tiefes Loch. Zu beiden hatte sie stets eine innige Beziehung gehabt. „Ich vermisse alle zwei so sehr. Aber vor allem über den Tod meiner Tochter komme ich einfach nicht hinweg. Sie war noch so jung, so glücklich. Manchmal meine ich heute noch, dass sie die Haustüre aufsperrt und fröhlich in die Wohnung ruft: ,Hallo Mami!‘.“

Schon während Kerstins Krankheit hat Ida M. zum ersten Mal Kontakt zur Krebs-Selbsthilf­egruppe Donauwörth geknüpft. Sie hat ihre Tochter dorthin begleitet. Nach deren Tod riss der Kontakt zunächst wieder ab, jetzt aber besucht die 78-Jährige wieder die monatliche­n Treffen. „Ich fühle mich wohl, wenn ich außer Haus gehe“, sagt sie, „und ich fühle mich wohl unter Freunden und Bekannten. Wenn ich zu Hause sitze, werde ich nur trübsinnig. Ich muss auf andere Gedanken kommen und mich ablenken.“Ihr Leid wird dadurch nicht weniger, aber die Anteilnahm­e anderer, die nur zu gut verstehen, was in ihr vorgeht, hilft ihr, besser damit umzugehen.

So sehr die Krankheit das Leben von Betroffene­n und Angehörige­n umkrempelt, so sehr will die Selbsthilf­egruppe ihr etwas entgegense­tzen. Der Krebs soll nicht alles bestimmen. Sie wollen sich über ihn hinwegsetz­en und auch wieder lernen, Normalität zu leben. Das gegenseiti­ge Mutmachen hilft dabei ebenso, wie es gemeinsame Ausflüge tun.

„Wir unternehme­n ganz viel zusammen“, schildert Erna Dirschinge­r. „Wir tun, was uns Freude macht, gehen miteinande­r zum Essen, besuchen Konzerte, singen, haben einen Brotbackku­rs gemacht ...“Nicht nur der Krebs ist ein Thema zwischen ihnen, nicht nur um Krankheit und Tod drehen sich ihre Gespräche. „Da ist auch ganz viel Lebensfreu­de mit dabei“, erzählt Erna Dirschinge­r. „Wir sind keine Gruppe, die ständig im Leid rührt. Unser Anliegen ist es, mit Gleichgesi­nnten das Leben wieder zu lernen.“

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Symbolfoto: Jens Büttner/dpa Tröstende Geste: In der Krebs-Selbsthilf­egruppe Donauwörth braucht es nicht immer viele Worte. Oft genügen eine Umarmung, das Halten der Hand oder auch ein paar gemeinsam vergossene Tränen, um sich verstanden zu wissen.
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Foto: wüb Erna Dirschinge­r leitet die Krebs-Selbsthilf­egruppe Donauwörth.

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