Wieder lernen, zu leben
In der Krebs-Selbsthilfegruppe Donauwörth treffen sich Betroffene und Angehörige. Sie dürfen dort ganz sie selbst sein und finden Menschen, die wissen, worum es geht. So wie Ida M., die Mann und Tochter durch die Krankheit verloren hat
Ist geteiltes Leid wirklich halbes Leid? Kann man die Last auf der Seele erleichtern, indem man sich anderen mitteilt? Ist es möglich, den Schmerz zu halbieren – und wer nimmt einem die andere Hälfte dieser Last ab?
Erna Dirschinger muss nicht lange nachdenken, um auf diese Fragen Antworten zu finden. Während die 62-Jährige am Kaffeetisch sitzt und in ihrer Tasse rührt, sagt sie aus tiefster Überzeugung und eigener Erfahrung: „Man kann Anteil nehmen und Anteilnahme bekommen. Auch das ist eine Form des Teilens. Das Leid selbst bleibt zwar beim Einzelnen, aber wer auf Gleichgesinnte trifft, findet ehrlich empfundene Anteilnahme bei anderen, denen es genauso geht.“
Monat für Monat sind es mindestens 30 Betroffene, die unter Erna Dirschingers Leitung den Weg zueinander suchen, um ihr Leid miteinander zu teilen, ihre Tränen – aber auch ihr Lachen. In der KrebsSelbsthilfegruppe Donauwörth kommen sie zusammen, um dort weiterzumachen, wo sie andernorts auf Hilflosigkeit stoßen. Dort gewinnen sie neue Lebensfreude und Selbstvertrauen. Dort dürfen sie so sein, wie sie sind, dürfen miteinander reden, schweigen und ihr Innerstes nach außen stülpen, wenn sie das Bedürfnis danach haben. Im geschützten Bereich der Gruppe gibt es keine Tabus.
„Bei manchen tritt eine sichtbare Erleichterung ein“, so hat es Erna Dirschinger in den vergangenen gut fünf Jahren erfahren, seit sie die Gruppe leitet. „Erleichterung auch deshalb, weil sie endlich verstanden werden.“Manche sind anfangs noch nicht so weit, ihre ganz privaten Schicksale Fremden anzuvertrauen. Sie suchen dann eher Einzelgespräche. Andere wiederum brauchen einfach nur die Berührung. Eine Umarmung und die Bestätigung: Es ist schön, dass du da bist!
„Ich kenne Betroffene, die es im Laufe ihrer Krankheit verlernt haben, zu lachen und zu weinen“, erzählt Erna Dirschinger. „Dann kommen sie zu uns, erzählen, hören zu und plötzlich fließen zum ersten Mal seit Langem die Tränen...“
Eine von ihnen ist Ida M. (Name geändert) aus Donauwörth. Die 78-Jährige ist selbst zwar gesund, hatte aber dennoch viele Jahre mit zu tun. Erst starb ihr Ehemann nach jahrelangem Siechtum, dann verlor sie ihre Tochter an die tückische Krankheit. Das liegt jetzt neun beziehungsweise sechs Jahre zurück. Aber Ida M. hat bis heute nicht gelernt, mit diesem doppelten Schicksalsschlag wirklich fertig zu werden. „Ich komme einfach nicht darüber hinweg“, sagt sie. „Ich hadere ganz oft mit Gott, kann seitdem in keine Kirche mehr gehen. Zwei meiner liebsten Menschen wurden mir hintereinander genommen. Woran soll man da noch glauben? Ich jedenfalls kann es nicht mehr.“
Ida M.’s traurige Geschichte begann 1995 zu einer Zeit, da sie eigentlich auf einen schönen Lebensabschnitt hoffte. Ihr Mann Anton M. war gerade 63 Jahre alt, hatte das Berufsleben eben hinter sich gelassen und freute sich auf einen schönen Ruhestand, den er mit vielen mit seiner Frau teilen wollte. Doch der Krebs machte dem Ehepaar einen Strich durch die Rechnung.
Anton M. hatte schon ein halbes Jahr lang Blut im Stuhl bemerkt. Jetzt endlich ging er zum Arzt und bekam die niederschmetternde Diagnose: Darmkrebs.
Es folgte die erste von drei Operationen, von denen er sich anfangs noch gut erholte, doch mit jedem Eingriff schwand seine Kraft. „Die medizinische Behandlung war jedes Mal zunächst erfolgreich“, erinnert sich seine Frau, „aber wir haben ständig in Angst gelebt und konnten einfach keine Ruhe finden.“Und in der Tat kam der Krebs jedes Mal zurück. Im Abstand von jeweils zwei Jahren. Anton M. bekam einen künstlichen Darmausgang, dann zog er sich in einer Klinik außerhalb unseres Landkreises einen KrankenKrebs hauskeim zu. Ein Harnleiter entzündete sich, die Blase war angegriffen, eine Odyssee von Arzt zu Arzt spielte sich innerhalb seiner letzten 14 Lebensjahre ab. „Er hat sich nie wieder richtig erholt“, erzählt Ida M. „Er wurde immer weniger, immer schwächer. Früher war er ein stattlicher, energiegeladener Mann, war voller Pläne. Es war ein Jammer zu sehen, wie es immer mehr mit ihm dahinging.“
Der Alltag war nur noch bestimmt von Krankheit. „Ich hab meinen Mann so gut es ging überall hin begleitet, aber es war kein schönes Leben mehr“, resümiert Ida M.
Und dann traf sie unvermittelt die nächste Schockdiagnose. Tochter Kerstin erkrankte an Brustkrebs. Das war 2007. Ständige Untersuchungen, Chemotherapien, Hoffen und Bangen – alles wiederholte sich nun für Ida M. „Unser FamilienleUnternehmungen ben mit zwei Schwerkranken war schmerzhaft“, sagt sie. „Man lebt nicht mehr, man funktioniert nur noch.“
2009 starb Anton M., 77. Drei Jahre später, 2012, erlag Tochter Kerstin 45-jährig ihrer Krebserkrankung. Ida M. fiel in ein tiefes Loch. Zu beiden hatte sie stets eine innige Beziehung gehabt. „Ich vermisse alle zwei so sehr. Aber vor allem über den Tod meiner Tochter komme ich einfach nicht hinweg. Sie war noch so jung, so glücklich. Manchmal meine ich heute noch, dass sie die Haustüre aufsperrt und fröhlich in die Wohnung ruft: ,Hallo Mami!‘.“
Schon während Kerstins Krankheit hat Ida M. zum ersten Mal Kontakt zur Krebs-Selbsthilfegruppe Donauwörth geknüpft. Sie hat ihre Tochter dorthin begleitet. Nach deren Tod riss der Kontakt zunächst wieder ab, jetzt aber besucht die 78-Jährige wieder die monatlichen Treffen. „Ich fühle mich wohl, wenn ich außer Haus gehe“, sagt sie, „und ich fühle mich wohl unter Freunden und Bekannten. Wenn ich zu Hause sitze, werde ich nur trübsinnig. Ich muss auf andere Gedanken kommen und mich ablenken.“Ihr Leid wird dadurch nicht weniger, aber die Anteilnahme anderer, die nur zu gut verstehen, was in ihr vorgeht, hilft ihr, besser damit umzugehen.
So sehr die Krankheit das Leben von Betroffenen und Angehörigen umkrempelt, so sehr will die Selbsthilfegruppe ihr etwas entgegensetzen. Der Krebs soll nicht alles bestimmen. Sie wollen sich über ihn hinwegsetzen und auch wieder lernen, Normalität zu leben. Das gegenseitige Mutmachen hilft dabei ebenso, wie es gemeinsame Ausflüge tun.
„Wir unternehmen ganz viel zusammen“, schildert Erna Dirschinger. „Wir tun, was uns Freude macht, gehen miteinander zum Essen, besuchen Konzerte, singen, haben einen Brotbackkurs gemacht ...“Nicht nur der Krebs ist ein Thema zwischen ihnen, nicht nur um Krankheit und Tod drehen sich ihre Gespräche. „Da ist auch ganz viel Lebensfreude mit dabei“, erzählt Erna Dirschinger. „Wir sind keine Gruppe, die ständig im Leid rührt. Unser Anliegen ist es, mit Gleichgesinnten das Leben wieder zu lernen.“