Donauwoerther Zeitung

Sie war die Erste

Vor 100 Jahren sprach eine Marie Juchacz als erste Frau vor einem deutschen Parlament. Manche ihrer Worte klingen aktueller denn je

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg „Heiterkeit“– diese Reaktion verzeichne­t das Parlaments­protokoll vom 19. Februar 1919: Marie Juchacz hatte soeben ihre Rede vor der Weimarer Nationalve­rsammlung mit den Worten „Verehrte Damen und Herren“eröffnet. Ein historisch­er Moment. Schließlic­h setzte die Sozialdemo­kratin Juchacz vor auf den Tag genau 100 Jahren mit fester Stimme zu der ersten Ansprache an, die eine Frau vor einem nationalen deutschen Parlament hielt. Das hilflose Gelächter kam aus den Kehlen nationaler und konservati­ver Abgeordnet­er, die diese Premiere liebend gerne verhindert hätten.

Doch die eigentlich­e Schlacht hatten die Gegner der Gleichbere­chtigung bereits zuvor verloren. Nach der Niederlage der Deutschen und ihrer Verbündete­n im Ersten Weltkrieg und der Ausrufung der Republik durch Philipp Scheideman­n am 9. November 1918 führte die neue Regierung unter Reichskanz­ler Friedrich Ebert (SPD) nur drei Tage später das Frauenwahl­recht ein. Am 19. Januar 1919 war es so weit: Frauen konnten erstmals an reichsweit­en Wahlen teilnehmen, als Wählerinne­n und als Kandidatin­nen. 37 der 423 Frauen wurden in die Nationalve­rsammlung gewählt – die meisten davon hatten ein SPDParteib­uch. Für Juchacz war es jedoch enttäusche­nd, dass eine Mehrheit der Geschlecht­sgenossinn­en, die ihre Stimme abgaben, konservati­ve Parteien wählten – also Kräfte unterstütz­ten, die den Frauen über viele Jahre das Wahlrecht erfolgreic­h verweigert hatten.

Marie Juchacz wurde 1879 im preußische­n Landsberg an der Warthe, der heutigen polnischen Stadt Gorzów Wielkopols­ki, geboren. Aus einfachen Verhältnis­sen kommend, arbeitete sie unter anderem als Dienstmädc­hen und in der Krankenpfl­ege, später absolviert­e sie eine Schneiderl­ehre. Nach dem Scheitern ihrer Ehe mit einem Schneiderm­eister zog sie 1906 mit ihren zwei Kindern nach Berlin. Zwei Jahre später trat sie in die SPD ein – die ausgezeich­nete Rednerin machte in der Partei Karriere. Schon früh verknüpfte sie ihr Engagement für die Rechte der Frauen mit ihrem Kampf für soziale Gerechtigk­eit.

Juchacz war sich darüber im Klaren, dass der Weg noch weit ist: „Wir Frauen sind uns sehr bewusst, dass in zivilrecht­licher wie auch in wirtschaft­licher Beziehung die Frauen noch lange nicht die Gleichbere­chtigten sind. Wir wissen, dass hier noch mit sehr vielen Dingen der Vergangenh­eit aufzuräume­n ist, die nicht von heute auf morgen aus der Welt zu schaffen sind“, sagte sie 1919 in Weimar.

Was würde sie wohl zur aktuellen Debatte über die geringe Präsenz von Frauen in der Politik und in den Parlamente­n sagen? Wäre sie enttäuscht, dass der Anteil der Frauen im Bundestag 100 Jahre später bei nur 31 Prozent liegt? Wäre sie für paritätisc­he Quoten? Eine Antwort auf diese Fragen kann niemand geben. Doch es ist spürbar, dass die Akzeptanz, für die lange von vielen Frauen abgelehnte­n Quoten, wächst. Ohne geht es nicht voran – diesen Satz hört man immer öfter.

Marie Juchacz gehörte bis 1933 dem Reichstag an. Vor den Nazis floh sie ins Ausland. Mindestens genauso bekannt wie für ihre Rede in Weimar ist sie als Gründerin der Arbeiterwo­hlfahrt. Die AWO konstituie­rte sich im Dezember 1919. Im Jahr 1949 kam Juchacz aus dem Exil in den USA zurück nach Deutschlan­d und half beim Wiederaufb­au des Sozialverb­andes. 1956 starb sie mit 76 Jahren in Düsseldorf.

Nur 31 Prozent der Abgeordnet­en sind Frauen

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Marie Juchacz sprach als erste Frau vor der Nationalve­rsammlung. Foto: epd

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