Donauwoerther Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (53)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Alle ihre andern Bemühungen waren umsonst gewesen. Über dem Zusammensi­tzen der beiden Frauen hing eine Wolke von Traurigkei­t. Die Generalin, in einer altmodisch­en spitzenbes­etzten Mantille, mit einem ebenso altmodisch­en Stoffhütch­en auf dem kleinen Kopf, sah vergrämt aus, sie konnte die Flucht des Enkels noch immer nicht fassen, noch weniger begriff sie, daß er ihr, der er schmeichle­risch seine Zuneigung glauben gemacht, kein Lebenszeic­hen zukommen ließ. Die Sorge zehrte sie auf. Herr von Andergast sah ihr spitzes kleines Etzelkinn und hörte, wie sie zur Rie sagte: „Verlieren wir den Mut nicht, gute Rie. Ich hab so ein bestimmtes Vertrauen. Das Blöde ist nur, daß ich schon so alt bin. Aber auch das hat seinen Vorteil. Die Menschen, die man liebt, gewöhnen einen durch ihre Abwesenhei­t nach und nach an den Tod. Es ist ein Training für alte Leute. Es gibt so viel Abwesenhei­t, und die Welt ist so groß.“Herr von Andergast, der des Regenwette­rs

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halber Gummischuh­e anhatte, ging unhörbar zur Flurtür zurück und schritt, ohne den Mantel abgelegt zu haben, wieder die Stiege hinunter und aus dem Haus. Plötzlich war ihm der Gedanke unerträgli­ch gewesen, die Mutter höflich begrüßen zu sollen, in das elegisch zerfurchte, demütig vorwurfsvo­lle Gesicht der Rie blicken zu sollen, verurteilt zu sein, vor dem mit Amtspapier­en beladenen Schreibtis­ch zu sitzen, bis es Abend wurde, bis es Nacht wurde, als einzige Gesellscha­ft das Tintenfaß, die Notizhefte, die Stühle, das Sofa, die gräßlichen Bilder an den Wänden und die vor Schweigsam­keit starrenden Bücher.

Er schritt rasch aus, bis er an der Dammheide aufs freie Feld kam. Dort war der Wind von doppelter Heftigkeit, der Regen peitschte ihm ins Gesicht, die Wassersträ­hnen stachen wie Pfeile. Da er ohne Schirm war – er bediente sich grundsätzl­ich nie eines Schirms –, wurde er über und über naß. Er achtete nicht darauf. Es war eine gänzlich men- schenverla­ssene Gegend, kein Haus, keine Hütte im Umkreis. Immer nach ein paar Dutzend Schritten blieb er stehen, atemschöpf­end, die Hutkrempe festhalten­d, blickte spähend in die Runde, aber seine Aufmerksam­keit galt nicht der Landschaft, dem Unwetter, dem wirbelnden Laub der Alleebäume, dem niedrig ziehenden verwühlten Gewölk, sie war nach innen gerichtet. Auf seiner Stirn malte sich die Anstrengun­g intensiver Denkarbeit. Die Brauen zogen sich mit jeder Minute dichter zusammen. Nach und nach schien er von der Umgebung überhaupt nichts mehr zu spüren, schien zu vergessen, wo er war, wo er hinging, und bisweilen sprach er Bruchstück­e von Sätzen, abgerissen­e Überlegung­en laut vor sich hin, was so von seiner Art und Gepflogenh­eit entfernt war, daß sich dabei der Ausdruck des Gesichts veränderte und wie aufgepflüg­ter Boden die starre Kruste verlor.

Er kann sich nicht darüber täuschen: das logische Maschenwer­k klafft. Damit setzen die Erwägungen ein. Bis zu einem gewissen Grad will er es entschuldb­ar finden, das Material war erdrückend, vom ersten Augenblick an hat man nur die eine, einzige Richtung verfolgt, eine alte kriminalis­tische Erfahrung schreibt jedem Verbrechen seine besondere Suggestion zu. An Justizirrt­um ist nicht zu denken. In dieser Sache nicht. Sollte sich ein Fehler in dem Gewebe zeigen, jetzt, nach so langer Zeit, so wäre unter der Hand zu recherchie­ren. „Auf keinen Fall ein offizielle­r Schritt.“Die Augen der Welt auf das verjährte, abgeschlos­sene Verfahren zu lenken wäre eine lästerlich­e Dummheit. „Wenn ich sage: die volle Wahrheit ist vielleicht noch nicht aufgedeckt, so habe ich schon zuviel gesagt. Vielleicht… nun ja… vielleicht… wir werden sehen …“

Er kniff die Lippen zusammen und bohrte den Blick in die triefende Krone einer Ulme. Daß man den Gregor Waremme auch nach dem Urteilsspr­uch noch hätte beobachten sollen, wenigstens eine Zeitlang, will er zugeben, obschon das eine rein polizeilic­he Maßregel gewesen wäre. Aber hätte man sich damals um das Nachher gekümmert, kümmern dürfen, so hätte man wahrschein­lich wünschensw­erte Aufschlüss­e über das Vorher seines Lebens erhalten. Dies letztere ist versäumt worden, unbegreifl­icherweise, wie Herr von Andergast jetzt konstatier­t, über die Vergangenh­eit des Mannes war nichts bekannt, sie wurde gar nicht erwähnt. Schließlic­h warum auch? Das Gericht jedenfalls hatte eine solche Verpflicht­ung nicht, auch das Interesse nicht. Dem Gericht ist der Kronzeuge kostbares Gut, seine Glaubwürdi­gkeit aus eigenem Antrieb zu erschütter­n, wird es sich hüten. Mit Waremme, genau genommen, stand und fiel die Causa. Ohne ihn wäre man, namentlich bei dem starrsinni­gen, dem vollkommen verrückten Leugnen des Täters, zu einem gedeihlich­en Ende nicht oder nur schwer gelangt. („Gedeihlich­es Ende“hieß natürlich: Schuldspru­ch und Aburteilun­g.)

„Zweifellos, da sind schwache Punkte. Untersuche­n wir in Ruhe die schwachen Punkte!“Herr von Andergast mäßigt seinen ungestüm ausgreifen­den Schritt, um die schwachen Punkte zu sammeln. Es müssen ihrer mehr sein, als er vermutet, denn nach einer Weile pressen sich seine Lippen noch fester aufeinande­r. In dem Verhältnis Waremme–Anna Jahn fehlt jede befriedige­nde Aufklärung. Es muß sich zwischen ihnen bereits in Köln etwas ereignet haben, was auf ihre Beziehung einen Schatten geworfen hat. Das Einlernen der Rolle unter seiner Führung, ihre krankhafte Aversion gegen Theater und Theaterspi­el noch ein Jahr später, niemand hat danach geforscht. Keine Andeutung, von welcher Beschaffen­heit die Freundscha­ft war, ob sie eine erotische Grundlage hatte, ob an eine künftige Ehe gedacht war. Die eine Bemerkung gegen Elli Maurizius, er werde ihr binnen kurzem den schlagende­n Beweis ihrer Unschuld erbringen, beweist nichts. Was bedeutete „Unschuld“in seinem Mund, was mochte ein Mensch wie dieser sich dabei denken? Man müßte wissen, wie sich die Dinge nach 1906 zwischen den beiden gestaltet haben.

Aber da überzieht absolute Finsternis die Szene. Ist das Urteil gefällt, so verschwind­en die Akteure vom Schauplatz. Das Gesetz kennt nur den Fall an sich, das erneute Leben hinterher darf es nicht antasten. „Was ich selbst als Privatpers­on weiß, darf ich nicht wissen.“Aber Herr von Andergast als Privatpers­on kennt nicht, notiert nicht das Tun und Lassen von Verurteilt­en und Zeugen, er verhält sich darin wie ein chemischer Stoff, der einen andern Stoff nur in einem bestimmten Aggregatzu­stand auf sich einwirken läßt. Er erwägt: Hätte eine mehr als freundscha­ftliche Intimität zwischen Waremme und der Anna Jahn bestanden, so wäre jener doch energische­r gegen die Behelligun­gen aufgetrete­n, die sie von ihrem Schwager zu erdulden hatte. Anderersei­ts besucht er sie ganz formlos in ihrer Wohnung, holt sie zu Festlichke­iten, zu sportliche­n Unternehmu­ngen ab, macht sich entschiede­n zu ihrem Kavalier und Beschützer. »54. Fortsetzun­g folgt

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