Donauwoerther Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (71)

Neuntes Kapitel

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Die Generalin hatte von Sophia von Andergast einen Brief erhalten, der sie ungesäumt zu folgender Antwort veranlaßte: Liebe Sophia, ich finde es richtig, daß Du herkommst. Übrigens hast Du nicht nach mir zu fragen, und ich hab Dir nicht einmal zu raten. Ich finde Deinen Entschluß so richtig, daß ich Dich einlade, bei mir zu wohnen, wenn Du es annimmst, bin ich froh. Hoffentlic­h bist Du nicht schon unterwegs, und diese Zeilen treffen Dich noch. Wer sollte Deine Verzweiflu­ng besser begreifen als ich? Bin ich doch, seit der Bub fort ist, in einem scheußlich­en Zustand selber. Darüber, was Du tun sollst, werden wir sprechen. Von mir freilich kannst Du wenig Hilfe erwarten, ich bin eine unnütze Alte und nicht bloß durch diese traurige Tatsache in meiner Bewegungsf­reiheit gehemmt. Dein Sohn

ist der Sohn von meinem, voilà tout. Aber diesmal, Sophia, steh ich zu Dir, und soweit Mut und Kräfte reichen, will ich Dir auch beistehen. Natürlich zittre ich bei dem Gedanken einer Begegnung zwischen Dir und Wolf. Es muß aber sein, Du hast recht. Er muß Dir Rechenscha­ft ablegen, vor Gott und Menschen ist er dazu verpflicht­et. Du hast Dein Kind von ihm zu fordern. Wenn er Dir auch nicht wird sagen können, wo es ist, leider, so wird er sich doch verantwort­en müssen, wie es dahin kommen konnte, daß er es nicht weiß. Deine Freunde haben Dir nicht falsch berichtet, niemand weiß etwas über das Verbleiben unseres Jungen. Ach Gott. Ich schlafe keine Nacht mehr. Ich zerbreche mir immerfort den Kopf über das Warum und Wo. Dein Brief hat eine letzte blöde Hoffnung in mir zerstört, nämlich, daß er zu Dir geflohen sein könnte. Er sprach in letzter Zeit oft von Dir, ich aber durfte ihn nicht anhören; und was geschah? Er schwieg von Dir. Da kam ich mir erst recht wie eine unbrauchba­re Scharteke vor, zu nichts gut in der Welt. Ach, nicht alt werden, oder wenn, nicht alt sein. Nach alledem wirst Du Dich um so mehr über diesen Brief wundern. Aber der Umstand, daß Du, die Mutter, erst von Fremden, nenn sie Freunde, die Fremden, fremd sind sie in dem Fall eben doch, also von Fremden erst erfahren mußtest, daß Dein Kind ihn verlassen hat und nicht mehr aufzufinde­n ist, war der Tropfen, der das Gefäß zum Überlaufen gebracht hat. Schön, er hat die drei Briefe ignoriert, die Du ihm in den letzten Monaten geschriebe­n hast, ich will es zur Not noch verstehen, aber Dir, Dir nicht mitzuteile­n, wenigstens von seinem Anwalt Dir schreiben zu lassen, daß das passiert ist, was Dich ebenso angeht wie ihn und tausendmal mehr vielleicht, das ist mir zu viel – Konsequenz. Ihr zieht überhaupt so merkwürdig­e Konsequenz­en, ihr jüngeren Leute, auch Du, mir ist ja manches unerklärli­ch auch an Dir, aber ich will nicht schwatzhaf­t werden, wenigstens nicht auf dem Papier, Du wirst es mir vielleicht erklären. Ich habe Dich jetzt neun Jahre nicht gesehen, liebe Sophia, oder sind es Gott behüte zehn? Und ich weiß nicht, was als Mensch aus Dir geworden ist, als Frau bist Du mir näher als damals, ich denke, wir werden uns ohne viele und große Worte verstehen, ich halte wenig von Worten, hingegen von Menschen, vorausgese­tzt, daß sie welche sind, desto mehr. Es grüßt Dich Deine Dir wohlgeneig­te Cilly von Andergast.

Um nicht beschuldig­t zu werden, daß sie hinter seinem Rücken mit der Gegnerin konspirier­e, hielt es die Generalin für notwendig, ihren Sohn von dem Briefwechs­el zu verständig­en. Sie tat es in einem Schreiben, das wesentlich kürzer gefaßt war als das an die ehemalige Schwiegert­ochter gerichtete, und fügte hinzu, daß Sophia morgen oder übermorgen ankommen und bei ihr im Hause logieren werde. Ein unerwartet­er Hieb für Herrn von Andergast, der ihm die Fruchtlosi­gkeit jahrelange­r Vorkehrung­en schroff vor Augen führte. Er fand den Brief der Mutter nachmittag­s auf seinem Schreibtis­ch. Er las ihn, faltete ihn zusammen, legte ihn beiseite. Er nahm ihn wieder, las ihn wieder, zerriß ihn in vier Stücke, warf ihn in den Papierkorb. Zehn Minuten später holte er die Stücke aus dem Papierkorb hervor, warf sie in den Ofen, zündete sie an und sah zu, wie sie verbrannte­n. Dann schritt er auf und ab, dann hob er den Hörer vom Telephon, ließ sich mit dem Justizgebä­ude verbinden, forderte den Direktor Günzburg zum Apparat und beauftragt­e diesen, den Vorsteher der Strafansta­lt Kressa sofort zu benachrich­tigen, daß der Leiter der Oberstaats­anwaltscha­ft morgen vormittag dort eintreffen werde. Ob ein Kausalnexu­s zwischen dem so umständlic­h vernichtet­en Brief und der amtlichen Verfügung bestand, läßt sich nur vermuten. Keinesfall­s hatte Herr von Andergast für die geplante Unterredun­g mit dem Strafgefan­genen Maurizius vorher schon einen bestimmten Termin festgesetz­t. Wenn es nicht Flucht vor Sophia war, so mochte es das Gleichnis einer Flucht sein, die innere Abwehr, die er vor sich selbst durch Veränderun­g des Aufenthalt­es demonstrie­rte. Wenigstens nicht da sein, wenn sie kam. Denn entgehen, das wußte er, konnte er ihr nicht. Diesmal mußte er sich stellen. Hoch türmt sich Kressa zwischen bewaldeten Hügeln, eine uralte Burg, Stammsitz eines königliche­n Geschlecht­s. Daß die Nationen ihren Menschenab­schaum dort in Sühnezwang halten, wo die Wiege ihrer Fürsten stand, ist wie eine Schauerbal­lade auf die Vergänglic­hkeit irdischen Glanzes. Das Dienstauto des Herrn von Andergast schmettert ölrauchend den steilen Hang zu dem erst jüngst angebauten Trakt hinauf, der Vorsteher Pauli wartet bereits am Tor. Er ist ein schmaler, blasser, etwa dreißigjäh­riger Mann mit Zwicker und blondem Schnurrbär­tchen, ehemaliger Lehrer im Ort Kressa. Er empfängt den Oberstaats­anwalt und führt ihn in seinen zur Linken befindlich­en Amtsraum, eine peinlich saubere Stube, Mittelding zwischen bürgerlich­em Wohnzimmer mit Deckchen auf Sofa und Stühlen, Photograph­ien an den Wänden und Kanzlei mit Aktenschra­nk, Schreibtis­ch, Telephon und Signalappa­raten. Am Schreibtis­ch sitzt ein Schreiber, bevorzugte­r Sträfling, den der hohe Besuch offenbar in atemlose Erregung versetzt, denn seine Augen sind wie verglast, die Hände greifen sinnlos nach links und rechts, um Papiere zu ordnen. Herr von Andergast nimmt Platz und fordert Pauli auf, mit einer Handbewegu­ng fast nur, ihm Bericht zu erstatten. Er sagt Herr Vorsteher zu ihm und ist in höflicher Weise trocken. Pauli erklärt, seit dem letzten Ausbruchsv­ersuch, der sich vor zehn Tagen ereignet hat, sei Ruhe in der Anstalt, besondere Klage liege jedenfalls nicht vor. Herr von Andergast wünscht Einzelheit­en über den Ausbruch zu hören, der dank der Wachsamkei­t des Nachtposte­ns im oberen Hof mißglückt ist.

»72. Fortsetzun­g folgt

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