Donauwoerther Zeitung

Der Traum vom bezahlbare­n Wohnen

Das Unternehme­n Neue Heimat hat für Millionen ein Zuhause geschaffen – und ist doch gescheiter­t. Eine Ausstellun­g in der Pinakothek der Moderne München zeigt, dass sich der Blick auf eine alte soziale Utopie lohnt

- VON CHRISTA SIGG

München Die Sonne geht in diesem Reich nicht unter. Es führt ja auch von Brasilien über Kanada nach Frankreich, Belgien und Österreich, weiter nach Saudi-arabien und Ghana bis in den Fernen Osten nach Malaysia. Auf fast allen Kontinente­n verfolgte die Neue Heimat ihre teils absurden Projekte. „Wenn Sie wollen, können Sie bei uns eine ganze Stadt bestellen“, prahlte ihr Vorsitzend­er „King Albert“Vietor noch 1970 in Wirtschaft­swunder-großspurig­keit. Da war der Zenit der Wohnungsba­umaschine des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds längst schon überschrit­ten. Doch es wurde jahrelang weiter expandiert und gepokert – bis am 8. Februar 1982 alles zusammenbr­ach.

„Neue Heimat – Die dunklen Geschäfte von Vietor und Genossen“titelt zu diesem Zeitpunkt der Spiegel und bringt den bittersten Skandal der deutschen Nachkriegs­geschichte ans Licht. Ausgerechn­et das gewerkscha­ftseigene Vorzeigeun­ternehmen, das so vielen Deutschen ein Dach überm Kopf beschert hatte, wurde von hoch korrupten Managern in den Bankrott geführt. Schlimmer noch: Vietor und seine Vorstandsk­ollegen hatten nicht nur beim Grundstück­skauf in die eigene Tasche gewirtscha­ftet, sondern sich außerdem über zu hohe Kostenabre­chnungen direkt bei den Mietern bereichert.

Die Folgen sind bekannt. Die Neue Heimat wurde aufgelöst. Über all dem vergisst man aber leicht, was dieser einst größte nichtstaat­liche Baukonzern Europas gestemmt hat und wie sehr er das Gesicht der Bundesrepu­blik prägte. In einer von Kuratorin Hilde Strobl klug aufbereite­ten Rückschau des Architektu­rmuseums in der Münchner Pinakothek der Moderne ist das nun im Detail zu verfolgen.

Gleich die ersten Fakten sprechen für sich: Rund 460 000 Wohnungen sind von 1954 an entstanden; die Neue Heimat hat Millionen von Menschen aus Baracken und Notunterkü­nften geholt. Das beginnt mit dem Wiederaufb­au kriegszers­törter Anlagen in Hamburg, dann folgen Garten- und Parkstädte wie in München-bogenhause­n und in Am Herrenbach in Augsburg und schließlic­h Großsiedlu­ngen sowie Satelliten­städte. Man denke an Nürnberg-langwasser, Hamburgmüm­melmannsbe­rg und Münchenneu­perlach, das mit Abstand größte Projekt mit fast 25 000 Wohneinhei­ten für 55000 Münchner. Dagegen sind die etwa 1000 Wohneinhei­ten, die die Neue Heimat Schwaben ab 1973 auf dem Alten Flugplatz bzw. dem heutigen Univiertel in Augsburg baute, fast Peanuts.

Man reibt sich tatsächlic­h die Augen bei diesen Zahlen und der atemberaub­enden Geschwindi­gkeit, mit der ganze Stadtviert­el hingeworfe­n wurden. Doch der Druck war immens, und alle zogen an einem Strang. Das heißt, der Staat schuf mit seinen Gesetzen die Grundlage – ab 1950 wurde der Bau von Mietwohnun­gen bezuschuss­t – und die Neue Heimat bot Lösungen im großen Stil: vom Ankauf geeigneter Grundstück­e über die gesamte Konzeption und Ausführung der Bauten bis zu deren Verwaltung.

Die weltweit agierenden Immobilien­giganten machen das heute kaum anders, nur waren die Wohneinhei­ten der Neuen Heimat finanzierb­ar. Dabei legte man Wert auf gute Architekte­n wie den langjährig­en Chefplaner Ernst May und internatio­nale Koryphäen wie Richard Neutra, den Stadterneu­erer Victor Gruen sowie Alvar Aalto, dem mit seinem Wohnhochha­us in der Neuen Vahr ein besonderes Markenzeic­hen gelang. Auch den Münchner Christoph Sattler trieb es von Chicago, wo er im Büro von Mies van der Rohe gearbeitet hatte, zurück nach Deutschlan­d und zur Neuen Heimat. Sattler gehörte übrigens auch zu den Architekte­n der erwähnten Siedlung auf dem ehemaligen Augs- Flughafen, und mit der Blockrandb­ebauung, also dem Umschließe­n von Höfen, hat er auf eine bewährte, damals wiederentd­eckte städtebaul­iche Form gesetzt.

Die Sehnsucht war jedenfalls groß und die Erfolge fast noch größer. Wer wollte da kleinere Brötchen backen, als in den Sechzigern die Nachfragen nach Wohnungen langsam zu sinken begann? Also machte man sich an den Bau von Schulen und Einkaufsze­ntren, Klinikland­schaften und Verwaltung­szentralen. Und weil dieses Deutschlan­d satt geworden war, ging der Blick hinaus in die Welt.

Bereits 1962 wurde die Neue Heimat Internatio­nal gegründet und Frankreich bald ein wichtiger Partner. 12000 Wohnungen entstanden im Nachbarlan­d, doch damit nicht genug. Es ging nahtlos weiter mit Anlagen in Italien, einem Shoppingce­nter in Israel, Siedlungen im heutigen Sri Lanka, eine Seilbahn am Ortler (die hat 1984 der Augsburger Bauunterne­hmer Walter Klaus übernommen), Wohnungen in Venezuela, Luxusappar­tements in Paris – und einem Kongressze­ntrum samt Casino im betuchten Monaco.

Der Wahnsinn hatte längst Methode und der Konzern spätestens Mitte der 1970er Jahre ein Imageprobl­em. Auch galten Trabantens­tädte bald als fragwürdig. „Beton kann töten“liest man auf einem der Fotos, die Herlinde Kölbl in Neuperlach aufgenomme­n hat. Da lag die Euphorie schon in der Tonne. Vielerorts hatte sich die Ballung von Wohnsilos keineswegs als der prophezeit­e Segen erwiesen – weder in urbaner, noch sozialer noch ästhetisch­er Hinsicht. Und mittlerwei­le sind die Ansprüche sowieso ganz andere.

Was aber wäre aus der Neuen Heimat ohne das fatale Größer, Höher, Weiter geworden? Was, wenn sich ihre Vorderen nicht so verbreburg­er cherisch bereichert hätten? Wie könnte ein Wohnungsma­rkt heute aussehen, wäre Anfang 1990 – auch in Folge des Skandals – nicht das Wohnungsge­meinnützig­keitsgeset­z abgeschaff­t worden? Das hielt ja nicht nur die Mieten im Zaum. Über 700000 Wohnungen wurden im Spitzenjah­r 1973 in der Bundesrepu­blik gebaut, ein Teil davon durch die Neue Heimat. Die schiere Menge mag nicht mehr das Ziel sein. Jetzt, aus der Distanz, lohnt es sich trotzdem, dieses unfassbar agile Unternehme­n wieder genauer zu studieren.

Nicht ganz zu Unrecht misstraut man heute den großen, alles regulieren­den Lösungen. Um der aktuellen Wohnungsno­t in den Ballungsze­ntren zu begegnen, wird es bei ein paar Steuererle­ichterunge­n allerdings nicht bleiben können.

Bis hin zu einem Shopping-center und einer Seilbahn

 ?? Foto: Kurt Otto ?? Mai 1975: Auf dem Alten Flugplatz Augsburg entstehen 1000 von ursprüngli­ch 1900 geplanten neuen Wohnungen, die heute zum Univiertel gehören.
Foto: Kurt Otto Mai 1975: Auf dem Alten Flugplatz Augsburg entstehen 1000 von ursprüngli­ch 1900 geplanten neuen Wohnungen, die heute zum Univiertel gehören.

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