Niederschönenfeld und Buchdorf verabschieden Etat
Zwei Insassen der JVA Kaisheim stehen nach einem erfolglosen Ausbruch vor Gericht. Im Lauf der Verhandlung kommt plötzlich auch eine angebliche geplante Geiselnahme zur Sprache
Augsburg/Kaisheim Angekündigt ist im Aushang vor dem Gerichtssaal im Augsburger Strafjustizzentrum für 8.30 Uhr ein Prozess wegen „Sachbeschädigung.“Solche Strafverfahren verhandelt ein Amtsgericht normalerweise im Stundentakt. Doch dieser Prozess wird bis weit in den Nachmittag gehen. Das Gericht hat 15 Zeugen geladen, Justizpersonal und Häftlinge der Justizvollzugsanstalt Kaisheim.
Vor einem Jahr hat ein Häftling der dortigen JVA versucht auszubrechen. Dabei soll der 37-Jährige einen Helfer gehabt haben, der jetzt neben ihm auf der Anklagebank sitzt. Beamte der Anstalt hatten bei einer Zellenkontrolle im Toilettenraum ein Loch in der Decke zum Dachboden entdeckt. Das mehr als kopfgroße Loch war mit einem Maurerhammer und einem Schraubenzieher als Meißel herausgeschlagen worden. Darin lagen, abgedeckt durch ein Schalbrett und weißem Flies, das Werkzeug und zwei Handys.
Doch wie konnten sie unbemerkt in die Zelle gelangen? Die Angeklagten äußern sich dazu nicht. Sie saßen zu dem Zeitpunkt abgesondert in Einzelhaft. Den fast gleichaltrigen Männern war aus disziplinarischen Gründen am Tag nur eine Stunde Hofgang erlaubt. Die Zeugenaussagen der Justizbeamten bleiben diesbezüglich vage. Fest steht anhand von Markierungen: Die Werkzeuge sind in der Bauabteilung und der Bäckerei entwendet worden – zwei von 35 Betrieben, die im Gefängnis arbeiten. „Welcher Gefangene welches Arbeitsgerät hat, wird von uns festgehalten“, schildert ein JVA-Beamter den Tagesablauf. Was Pannen offensichtlich nicht ausschließt. Das herausgeschlagene Mauerwerk sollen die Angeklagten, versteckt in leeren Tetrapacks, mit dem Müll entsorgt haben. Putz und Mörtel wurden die Toilette hinuntergespült.
Wer als Beobachter häufiger Prozesse verfolgt, dem bietet sich an diesem Tag ein ungewohnter Anblick. Zeugen tragen Hand- und Fußfessel, die ihnen im Gerichtssaal auch während ihrer Aussage nicht abgenommen werden. Zudem sind ein halbes Dutzend Polizisten im Gerichtssaal. In der JVA Kaisheim sitzen viele Schwerkriminelle ein, die lange Haftstrafen verbüßen müssen.
Mit der Aussage des ersten Häftlings scheint der Prozess eine dramatische Wende zu nehmen. Ein neuer Vorwurf taucht gegen beide Angeklagte auf. Sie sollen eine Geiselnahme geplant haben, falls der Ausbruch scheitert. Angeblich wollten sie während einer Therapiesitzung die Anstaltspsychologin als Geisel nehmen. Tatsächlich hat es einen solchen Fall schon einmal gegeben. Der 38-Jährige, der das Gericht damit überrascht, hat auch Angestellten den geplanten Ausbruch verraten. „Weil ich da nicht mit reingezogen werden wollte“, wie er sagt. „Bei mir stand viel auf dem Spiel.“Es ist kein Geheimnis: Wer „singt“, hat im Gefängnis einen schweren Stand. Doch dem Mann in seiner verwaschenen Anstaltskleidung scheint es egal zu sein. Gericht und Staatsanwalt reagieren konsterniert auf die Aussage. Doch sie verliert rasch an Gewicht, als beide Verteidiger den Zeugen in die Mangel nehmen. Heraus kommt, er hat morgens Lyrica und andere Medikamente geschluckt. Der gelernte Straßenbauer leidet an paranoiden Wahnvorstellungen, ist in psychiatrischer Behandlung.
Was den Staatsanwalt nicht davon abhält, in seinem Plädoyer für die Angeklagten mehrmonatige Freiheitsstrafen zu beantragen. Da andere Häftlinge zeitweise ebenfalls in der Zelle einquartiert waren, könnten auch sie den Ausbruch versucht haben. So sehen es zumindest die Verteidiger. Sie fordern daher ihre
Mandanten freizusprechen. In einem Fall mit Erfolg.
Der Häftling, der dem 37-Jährigen das Werkzeug beschafft haben soll, wird vom Vorwurf der Beihilfe freigesprochen. „Ich habe Ihnen nicht viel geglaubt“, merkt der Amtsrichter an, als er das Urteil verkündet. „Aber das war Ihnen nicht nachzuweisen.“Dagegen verlängert sich mit dem Urteil für den Mitangeklagten seine Haftzeit um weitere elf Monate. Der 37-Jährige ist bereits zehn Jahren im Gefängnis, verurteilt wegen Raubmordes.
Im August 2019, sieben Monate nach dem missglückten Versuch, ist in der JVA Kaisheim abermals ein Ausbruch von Gefangenen gescheitert. Zwei Häftlinge hatten auch hier ein Loch in die Decke ihres Haftraumes geschlagen. Ein Mithäftling verriet sie.
Der Prozess gegen beide Männer hätte ebenfalls dieser Tasge stattfinden sollen, wurde wegen der Corona-Epidemie kurzfristig abgesetzt. Angeklagt ist wieder „Sachbeschädigung“. Denn nach dem deutschen Strafrecht ist ein Gefängnisausbruch an sich keine Straftat. Bestraft wird die Beschädigung von Sachen. Dabei ist die Höhe des Schadens ist in der Regel gering. In der JVA Kaisheim lag sie in beiden Fällen deutlich unter 200 Euro.