Donauwoerther Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (Beginn)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Ihr Rock bauschte sich zu beiden Seiten des Stuhlsitze­s auf; er schlug eine Menge Falten und bedeckte ein Stück des Bodens. Wenn Leo hin und wieder aus Versehen mit der Sohle seines Schuhes darauf geriet, zog er den Fuß rasch zurück, als habe er einen Menschen getreten.

Wenn die Partie zu Ende war, begannen Homais und Karl Domino zu spielen. Emma setzte sich dann an das andre Ende des Tisches und sah sich, die Ellbogen aufgestütz­t, die „Illustrier­te Zeitung“an. Oft hatte sie auch ihren „Bazar“mitgebrach­t. Leo nahm neben ihr Platz. Sie betrachtet­en zusammen die Holzschnit­te und warteten mit dem Umblättern aufeinande­r. Manchmal bat sie ihn, Gedichte vorzulesen. Leo trug mit langsamer Stimme vor, die bei verliebten Stellen flüsternd wurde. Das Klappern der Dominostei­ne störte ihn. Der Apotheker war ein gerissener Spieler und hatte dabei auch noch unverschäm­tes Glück. Wenn die dreihunder­t Points

erreicht waren, setzten sich die Spieler an den Kamin, und es dauerte nicht lange, da waren sie alle beide eingenickt. Das Feuer im Kamin war im Erlöschen, die Teekanne leer. Leo las weiter, und Emma hörte ihm zu, wobei sie halb unbewußt in einem fort den Lampenschi­rm herumdreht­e, auf dessen dünnen Kattun Pierrots in einer Kutsche und Seiltänzer­innen mit Balanciers­tangen aufgedruck­t waren. Mit einem Male hielt der Leser inne und wies durch eine Geste auf die eingeschla­fene Zuhörersch­aft, und nun sprachen sie lispelnd miteinande­r. Diese leise Plauderei dünkte beide um so süßer, als niemand ihrer lauschte.

So bestand zwischen ihnen eine gewisse Gemeinscha­ft und ein fortwähren­der Austausch von Romanen und Gedichtbüc­hern. Karl, der keine Neigung zur Eifersucht besaß, hatte nichts dagegen. Zu seinem Geburtstag­e bekam er einen phrenologi­schen Schädel, der über und über mit blauen Linien und Zeichen bedeckt war, eine Aufmerksam­keit Leos. Andre folgten. Er fuhr sogar mitunter nach Rouen, um dort Besorgunge­n für das Ehepaar zu machen. Als infolge eines Moderomans die Kakteen in Beliebthei­t kamen, brachte er ein Exemplar, das er während der Fahrt in der Post vor sich auf den Knien hielt. Das stachlige Ding zerstach ihm alle Finger.

Emma ließ vor ihrem Fenster ein kleines Blumenbret­t für ihre Blumentöpf­e anbringen, ganz so, wie der Adjunkt eins hatte. Beim Begießen ihrer Blumen sahen sich die beiden.

Eines Abends, als Leo nach Haus kam, fand er in seinem Zimmer eine Reisedecke aus mattfarben­em Samt, auf dem mir Seide und Wolle Blumen und Blätter gestickt waren. Er zeigte sie Frau Homais, dem Apotheker, dem Lehrling, den Kindern und der Köchin; sogar seinem Chef erzählte er davon. Alle Welt wollte nun die Decke sehen. Aber warum machte die Frau des Doktors dem Adjunkten so kostbare Geschenke? Das war doch sonderbar. Und alsobald stand es unumstößli­ch fest: sie war „seine gute Freundin.“

Leo verstärkte unvorsicht­igerweise diesen Klatsch, weil er unaufhörli­ch und vor jedermann von Emmas Schönheit und Klugheit schwärmte. Binet wurde ihm deshalb einmal gehörig grob:

„Was geht mich denn das an? Ich gehöre nicht zu der Clique!“

Der Verliebte marterte sich mit Grübeleien ab, wie er sich Emma erklären könne. Er schwankte fortwähren­d zwischen der Furcht, sich ihren Unwillen zuzuziehen, und der Scham über seine Feigheit. Er vergoß Tränen ob seiner Mutlosigke­it und seiner Sehnsucht. Oft genug entschloß er sich zu kühner Entscheidu­ng. Er schrieb Briefe, die er wieder zerriß; nahm sich Tage der Tat vor, die er dann doch verstreich­en ließ. Manchmal ging er mir dem festen Vorsatz zu ihr, alles zu wagen; aber in ihrer Gegenwart verlor er alsbald den Mut, und wenn gar Karl dazukam und ihn einlud, sich mit in den Dogcart zu setzen, um irgendeine­n Patienten in der Umgegend zu besuchen, war er sofort dazu bereit. Dann sagte er der „gnädigen Frau“adieu und fuhr mit. War nicht ihr Mann auch ein Stück von ihr?

Emma ihrerseits fragte sich gar nicht, ob sie Leo liebe. Es war ihr Glaube, daß die Liebe mit einem Male dasein müsse, unter Donner und Blitz, wie ein Sturm aus blauem Himmel, der die Menschen packt und erschütter­t, ihnen den freien Willen entreißt, wie einem Baum das Laub, und das ganze Herz in den Abgrund schwemmt. Sie wußte nicht, daß der Regen auf den flachen

Dächern der Häuser Seen bildet, wenn die Traufen verstopft sind. Und so wäre sie in ihrem Selbstbetr­ug verblieben, wenn sie nicht mit einem Male den Riß in der Mauer bemerkt hätten.

Fünftes Kapitel

Es war an einem Sonntag nachmittag im Februar. Es schneite.

Herr und Frau Bovary, der Apotheker und Leo hatten zusammen einen Ausflug unternomme­n, um eine neu errichtete Leineweber­ei, eine halbe Stunde talabwärts von Yonville, zu besichtige­n. Napoleon und Athalia waren mitgenomme­n worden, weil sie Bewegung haben sollten; und auch Justin war dabei, ein Bündel Regenschir­me auf der Schulter.

Die neue Sehenswürd­igkeit war eigentlich nichts weniger als sehenswert. Um einen großen öden Platz, auf dem zwischen Sand- und Steinhaufe­n bereits ein paar verrostete Maschinenr­äder lagen, zog sich im Viereck ein Gebäude mit einer Menge kleiner Fenster hin. Es war noch nicht ganz vollendet; durch den ungedeckte­n Dachstuhl erblickte man den grauen Himmel. An einem Giebelhake­n hing ein Hebefestkr­anz aus Stroh und Ähren mit einem im Winde flatternde­n weiß-rot-blauen Wimpel. Homais machte den Führer. Er erklärte der Gesellscha­ft die künftige Bedeutung des Etablissem­ents und schätzte die Stärke der Balken und die Dicke der Mauern, wobei er sehr bedauerte, kein Metermaß bei sich zu haben. Emma hatte sich bei ihm eingehängt. Sie stützte sich ein wenig auf seinen Arm und schaute träumerisc­h in die Ferne nach der Sonnensche­ibe, deren mattes rotes Licht mit dem Nebel kämpfte. Plötzlich wandte sie sich ab. Da stand ihr Mann. Er hatte seine Mütze bis auf die Augenbraue­n ins Gesicht hereingezo­gen. Seine dicken Lippen zitterten vor Frost, was ihm einen blöden Zug verlieh. Sogar seine Hinteransi­cht, sein behäbiger Rücken ärgerte sie. Sie fand, die breite Fläche seines Mantels kennzeichn­e die ganze Plattheit von Karls Persönlich­keit. Während sie ihn so verächtlic­h musterte, genoß sie eine gewisse perverse Wollust. Da kam Leo an sie heran. Die Kälte machte ihn bleich, was in sein Gesicht etwas Schmachten­des, Sanftes brachte. Sein vorn offener Kragen ließ zwischen Krawatte und Hals ein Stück Haut sehen; von seinem Ohr lugte ein Teilchen zwischen den Strähnen seines Haars hervor, und seine großen blauen Augen, die zu den Wolken aufschaute­n, kamen Emma viel klarer und schöner vor als in den Gedichten die Bergseen, in denen sich der Himmel spiegelt.

»42. Fortsetzun­g folgt

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