„Man kann Kalou im Grunde dankbar sein“
Der langjährige Ethikrats-Vorsitzende Peter Dabrock kritisiert den Neustart der Bundesliga und die DFL-Pläne scharf. Im Fall Salomon Kalou erkennt der Theologieprofessor die „Scheinheiligkeit des gesamten Konzeptes“
Die Mehrheit der Deutschen ist gegen eine Fortsetzung der Fußball-Bundesliga während der Corona-Krise. 50 Prozent sprachen sich in einer Umfrage von Infratest dimap für den „ARDDeutschlandtrend“gegen einen Neustart der 1. und 2. Liga ohne Zuschauer aus. Dennoch gibt es genug Fans, die sich auf einen Neustart freuen. Dabrock: Ich käme nicht auf die Idee, den Zuschauern irgendeinen Vorwurf zu machen, das hielte ich für Moralismus. Mir geht es darum, zu kritisieren, wie die Verantwortlichen der Bundesliga ein Lobby-Projekt durchgesetzt haben und damit die Solidarität im Lande einem erheblichen Stresstest aussetzen. Das verurteile ich.
Kann man der Deutschen Fußball Liga denn vorwerfen, dass sie um ihre Existenz kämpft und Lobby-Arbeit betreibt?
Dabrock: Dass jedes Wirtschaftsunternehmen darauf schaut, dass es überleben kann, ist einerseits das Natürlichste der Welt. Die andere Frage ist, was man dafür aufs Spiel setzt und welche Alternativen man hat. Angesichts des Umstandes, dass der europäische Fußball im Grunde inzwischen nur noch von der Internationalität her zu verstehen ist, hätte man auch überlegen können, ob man nicht eine gemeinsame europäische Strategie hinbekommt, bei der sämtliche Ligen und sämtliche Vereine zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Es wäre denkbar gewesen, dass sich das ganze System europäischer Fußball auf eine Pause bis zum Beginn der nächsten Saison einigt, also eine paneuropäische Einigung.
Fällt der Bundesliga eine Sonderrolle zu, die sie stets versucht hat von sich zu weisen?
Dabrock: Natürlich gibt es ein nationales Interesse, dass die Bundesliga als eine der stärksten Ligen der Welt weiter existiert. Aber es ist nicht im nationalen Interesse, dass in mehrfacher Hinsicht diese Bundesliga ein Vorzugsgeschehen erfährt, das die anderen im nationalen Interesse liegenden großen Aufgaben erheblich gefährdet. Dass sich die Politik hier von einem wirklich halbgaren Konzept und der dahinterstehenden Lobby-Arbeit so hat vereinnahmen lässt, das kann sich, sei es aus medizinischen Gründen oder weil die Anspannung im Land steigt, als verheerend erweisen.
Warum halten Sie das DFL-Konzept für halb gar?
Dabrock: Es geht um drei Fragen. Warum akzeptiert man so etwas? Wie führt man so etwas durch? Und was sind die Konsequenzen daraus? In jeder dieser drei Hinsichten scheitert das Konzept. Zum ersten: Es werden Bedingungen akzeptiert, die wir in allen anderen Bereichen des Corona-Lebens nicht akzeptieren und auch in anderen Sportarten nicht akzeptieren. Wenn die Pandemie ein Marathonlauf wäre, könnte man sagen, wir sind nun in der anaeroben Phase. Diese ist, was die soziopsychologische Dynamik betrifft, die ganz, ganz schwierige Phase, ehe hoffentlich eine Phase kommt, in der man wieder auf eine Form von Normalität eingehen kann. Deswegen muss man da besonders aufpassen, dass die Maßnahmen zueinander passen und dass es gerecht zugeht. Das ist so wichtig, dass das Gerechtigkeitsgefühl in dieser Phase nicht allzu sehr strapaziert wird. Wenn das Mantra lautet: kein Kontakt, Abstand, Hygiene, Schutz, aber man dann ausgerechnet eine Sportart zulässt, in der all das von Anfang an und notorisch nicht eingehalten werden kann, hat das natürlich Auswirkungen darauf, ob sich die Menschen fragen: Warum muss ich mich in meinem Bereich an solche Einschränkungen halten? Die Bundesliga fängt jetzt einfach an, und alle anderen Menschen müssen noch bis zum 5. Juni diese Kontaktsperre einhalten.
Kommen wir zur Durchführung: Der Kölner Profi Birger Verstraete hat nach seiner Kritik an einer Fortsetzung des Spielbetriebs und einem anschließenden Gespräch mit seinem Arbeitgeber seine Meinung in einer Mitteilung revidiert, die DFL hat die Vereine zum Stillschweigen über die Ergebnisse der Tests auf das Coronavirus aufgefordert.
Dabrock: Der 1. FC Köln hat seinem Spieler erkennbar einen Maulkorb verpasst. Auch das nagt an der Glaubwürdigkeitsstärke des Konzepts. Und die DFL setzt sogar noch eins drauf. Wer unabhängig von der DFL bekannt geben will, ob er Corona-Fälle im Hause hat oder nicht, bekommt wie in einem autokratischen System ebenfalls einen Maulkorb verpasst. Das alles sind Indizien dafür, dass etwas nicht stimmt und dass man etwas verbergen muss. Man muss sich aber auch die Kontrollen ansehen. Zwischen den Kontrolleuren und den Kontrollierten herrscht ein Nahverhältnis, zum Beispiel in Köln. Da wurden Spieler wie Verstraete der Risikokategorie II zugeordnet, obwohl er selbst sagte, er habe zu allen drei positiv Getesteten sehr engen Kontakt gehabt. Das müsste nach allen bekannten Regeln der Kunst eine 14-tägige Quarantäne nach sich ziehen. Von einem dem Klingelschild und Namen nach bekannten Gesundheitsamt zu verlangen, das neben dem Dom zweite Heiligtum der Stadt zu gefährden, erfordert ein ganz erhebliches Maß an Mut.
Die DFL will mit regelmäßigen Tests auf das Coronavirus sicherstellen, dass in den restlichen Spielen der Bundesliga-Saison bis Ende Juni keine infizierten Profis auflaufen. Wie bewerten Sie die Debatte um die freien Testkapazitäten?
Dabrock: Wenn man ins Detail geht, sieht man, wie absurd das Ganze ist. Die Botschaft lautet: Es ist eine Zahl an überzähligen Tests vorhanden, Deutschland kann es sich also leisten, diese an die Bundesliga abzugeben. Ich bezweifle das. Die Politik hat nur das abstrakte Konzept geprüft, hat aber nicht die gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe im Zusammenhang dieses Konzepts in den Blick genommen. Natürlich kann man sagen, dass wir derzeit Kapazitäten übrig haben, aber die haben wir auch nur deswegen, weil es offensichtlich noch immer keinen Masterplan gibt, wie man die vorhandenen Testkapazitäten effektiv und gerecht einsetzt an den Stellen, an denen sie bitter nötig sind, nämlich im systemrelevanten Bereich und im Bereich der Menschen, die massive Einschränkungen ihrer Grundrechte erfahren. Man muss also das Zusammenspiel dieser ganzen Argumente betrachten, um zu erkennen, dass etwas richtig schiefläuft.
Salomon Kalou von Hertha BSC hat Szenen aus der Umkleidekabine des Berliner Bundesligisten gefilmt und live verbreitet. Auf den Aufnahmen war unter anderem zu sehen, wie er Teamkollegen die Hand gab. Das widerspricht dem DFL-Hygienekonzept. Hertha suspendierte den Stürmer, dieser entschuldigte sich für sein Verhalten. Müsste man sich nicht eigentlich bei Kalou bedanken, dass er die Schwachstellen offengelegt hat? Dabrock: In einer äußerst angespannten, komplexen und erkennbar durch reine Profitinteressen geleiteten Gemengelage werden junge Menschen plötzlich zur Verantwortung gezogen und als Sündenböcke deklariert. Hier wird deutlich, wie bis zur Verlogenheit die Umsetzung dieses Konzeptes doppelzüngig ist. Dieser junge Mann hat sich vielleicht einfach so verhalten, wie sich ein junger Mann eben verhält. Das ist nicht richtig, aber es zeigt in der Tat, auf wie dünnem Eis dieses ganze Konzept bei solchen jungen Menschen aufgebaut ist, deren Lebenstunnel das Kicken ist.
Welche Wirkung kann der Fall Kalou haben?
Dabrock: Wenn die Bundesliga und damit das Pseudo-Containment wieder startet, wo wird dann das Problem sein, dass sich die Spieler in der Kabine die Hand geben, wo sie doch beim Freistoß in der Mauer nebeneinanderstehen oder es zu einer Rudelbildung kommt? Man kann Kalou im Grunde dankbar sein. Wenn wir uns über ihn so aufregen und gleichzeitig akzeptieren, dass einige Tage später alles, was im Fußball normal ist, wieder sein darf, dann zeigt das noch einmal mehr die Scheinheiligkeit des gesamten Konzeptes. Es zeigt, wie überreizt dieses ganze Konzept ist, dass man an dieser Stelle den Sündenbock gefunden hat, aber weiß, dass man ein paar Tage später von Berufs wegen von morgens bis abends so weitermacht. Das Konzept ist von vorne bis hinten nicht durchdacht und wird eine fatale Wirkung auf das gesamte Einhalten der Einschränkungen haben.
Peter Dabrock, 56, ist seit 2010 TheologieProfessor an der FriedrichAlexander-Universität ErlangenNürnberg. Er war von April 2012 bis April 2020 Mitglied des Ethikrats und zuletzt vier Jahre dessen Vorsitzender.