Beim Geisterspiel allein im Oberrang
Früher konnte man als Lokalredakteur den Kommunalpolitikern über die Schulter blicken. Jetzt muss man auch hier viel Sicherheitsabstand halten
Zu viel Nähe kann für Journalisten zum Problem werden. Auf der anderen Seite sollen wir den Politikern auf die Finger schauen – und dafür muss man extrem nahe heran. Deshalb habe ich mir einen Platz direkt am Ring gesichert und teile mir mit dem Oberstdorfer Marktgemeinderat seit über zehn Jahren einen der engsten Sitzungssäle der Republik. Zwar fehlt dort Beinfreiheit, es herrscht häufig dicke Luft und der Oppositionsführer fährt einem schon mal mit dem Stuhl gegen die Kniescheibe, wenn er das Fenster kippen will. Dafür kann man den Ratsmitgliedern buchstäblich über die Schulter schauen, kann jedes Zucken der Gesichtsmuskeln beobachten und ist so bei den meist hitzigen Debatten mittendrin statt nur dabei.
Bevor die Corona-Krise begann, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass mir die langen Sitzungen Woche für Woche, die oft nach 23 Uhr enden, fehlen würden. Doch es ist einfach nicht das Gleiche, alle Ratsmitglieder abzutelefonieren – wenn man sie auch live diskutieren und streiten sehen kann. Doch die letzten Sitzungen der Legislaturperiode fielen ebenso ins Wasser wie die persönlich geführten Interviews mit ausscheidenden Kommunalpolitikern und Wahlpartys, wo einem siegestrunkene WahlgePodiumsdiskussion winner endlich einmal ehrlich die Meinung sagen.
So fieberte ich der E-Mail aus dem Rathaus entgegen, die – nachdem das Gesundheitsamt grünes Licht gegeben hatte – die erste Gemeinderatssitzung nach der CoronaPause ankündigte. Wenige Tage später machte ich mich voll desinfiziert und mit schickem Mund-Nasen-Schutz ausgestattet auf den Weg. Doch was mich in Oberstdorf erwartete, war ein völlig anderes Bild: Statt am altehrwürdigen Ratstisch tagten die 20 Gremiumsmitglieder im großen Kursaal auf der Fläche eines halben Fußballfeldes. Dort wo noch vor wenigen Monaten 1000 Zuhörer die mit den zwei Bürgermeisterkandidaten vor der Wahl verfolgt hatten. Für den Berichterstatter war ein einsamer Tisch mit großem Sicherheitsabstand auf der Empore aufgestellt. Dort verbringe ich nun meine Abende – wie der letzte Zuschauer im Oberrang eines Geisterspiels. Wenn ich dort sitze und mal wieder nichts verstehe, weil ein Ratsmitglied vergessen hat, den Knopf seines Tischmikrofons zu drücken, sehne ich mich in den engen, stickigen Sitzungssaal im alten Rathaus zurück. Wenn sich das Coronavirus verzogen hat, will ich wieder auf meinen alten Platz und dann rücke ich ganz dicht heran. An dieser Stelle berichten täglich Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion von ihrem Alltag in Zeiten von Corona.