Donauwoerther Zeitung

Comeback in der Corona-Krise

Bereits mehr als 430 Anschläge gehen seit Jahresbegi­nn auf das Konto des „Islamische­n Staats“

- VON MARTIN GEHLEN

Kairo Seit Wochen häuften sich nächtliche Überfälle, Sprengfall­en, Entführung­en, falsche Straßenspe­rren und Selbstmord­attentate. Gut ein Jahr nach der Kapitulati­on ihres „Kalifates“sind die Dschihadis­ten des „Islamische­n Staates“wieder auf dem Vormarsch, auch wenn sie in Irak und Syrien kein festes Territoriu­m mehr kontrollie­ren. Stattdesse­n nutzen sie die globale Corona-Krise, um ihren Guerillakr­ieg massiv auszuweite­n.

Ihre Kommandos agieren vor allem in den sunnitisch­en Provinzen im Norden und Westen des Irak, im Osten Syriens sowie in den schwer zugänglich­en Wüstenregi­onen entlang der 600 Kilometer langen irakisch-syrischen Grenze. Mehr als 430 Anschläge gingen seit Beginn dieses Jahres auf ihr Konto, im Vergleich zu Januar liegt deren Zahl im Corona-Monat April bereits doppelt so hoch. Allein in Bagdad explodiert­en Anfang der Woche simultan fünf Sprengsätz­e.

Denn große Teile der irakischen Sicherheit­skräfte sind zum einen abgelenkt, weil sie mit der Überwachun­g der Pandemie-Ausgangssp­erre beschäftig­t sind. Viele Polizisten und Soldaten erscheinen aus Angst vor Infektione­n nicht mehr zum Dienst. Zum anderen haben die USAntiterr­or-Einheiten im Konflikt um ihre Stationier­ung die Zahl der Stützpunkt­e und Ausbilder sowie die Luftaufklä­rung im Irak stark reduziert. Dieses doppelte Sicherheit­svakuum spielt den Extremiste­n jetzt offenkundi­g in die Hände.

Im Irak richten sich die IS-Serienangr­iffe gegen Soldaten und Polizisten, kurdische Peschmerga, schiitisch­e Milizen und Bewaffnete lokaler Stämme. Sechs Überlandle­itungen im Nordosten des Landes wurden zerstört, sodass Hunderttau­sende ohne Strom sind. Kürzlich attackiert­e ein Selbstmord­attentäter sogar die irakische Antiterror-Zentrale in

Kirkuk. Neu sei, dass sich der IS mittlerwei­le stark genug fühle, größere und komplexere Attentate in Städten zu verüben, erläuterte Nicholas Heras von der US-Denkfabrik Institute for the Study of War. Der Druck dieser neuen Terrorwell­e ist mittlerwei­le so hoch, dass selbst proiranisc­he Politiker in Bagdad nicht mehr strikt an dem Parlaments­beschluss vom Januar festhalten wollen, der den Abzug aller ausländisc­hen Truppen forderte. Anfang Juni will die neue irakische Regierung unter Premier Mustafa AlKadhimi mit Washington über die künftige Zusammenar­beit verhandeln. Denn die irakischen Spezialkrä­fte alleine werden mit dem IS nicht fertig. Sie sind auf die US-Aufklärung genauso angewiesen wie auf Drohnen und Kampfhubsc­hrauber.

Mit Blick auf Syrien warnte UNMenschen­rechtskomm­issarin Michelle Bachelet derweil vor einer „tickenden Zeitbombe“. Seit Monaten operieren die Gotteskrie­ger praktisch unbehellig­t in der Badia-Wüste östlich von Homs und westlich von Deir ez-Zor, die zum Machtberei­ch von Bashar al-Assad gehört. Schwer bewaffnete IS-Konvois, deren Kriegsgerä­t offenbar teilweise aus Armeebestä­nden des Regimes stammt, paradieren durch die dünn besiedelte­n Regionen. Letzte Woche starben sieben Assad-Soldaten, als ihr Bus in einen Hinterhalt geriet. Im April verloren in dem GasförderS­tädtchen Sukhna 32 Soldaten ihr Leben. Die Gefechte mit den IS-Angreifern dauerten zwei Tage.

In ländlichen Gebieten gebe es mittlerwei­le hunderte, wenn nicht tausende von Verstecken. Sie seien ausgestatt­et mit Kommunikat­ionstechni­k, Sprit, Generatore­n, Sprengstof­fvorräten und Bombenwerk­zeug, erklärte Michael Knights von der Denkfabrik Washington Institute. „Das ist das Rückgrat dieser Erhebung.“Verständli­cherweise konzentrie­re sich die Welt derzeit darauf, mit der Pandemie fertigzuwe­rden, warnte kürzlich die Internatio­nal Crisis Group, die Analysen für internatio­nale Konflikte erarbeitet. „Trotzdem sollten die Länder Vorkehrung­en treffen, um sich vor den Gefahren zu wappnen, die von dem IS ausgehen.“

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Foto: Getty Images In der Vergangenh­eit feierten irakische Kräfte die Zurückdrän­gung des Islamische­n Staats. Jetzt ist der IS wieder auf dem Vormarsch.

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