Donauwoerther Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (71)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Aber ist es nicht oft so, daß ein übervolles Herz mit den banalsten Worten nach Ausdruck sucht? Und vermag denn jemand genau zu sagen, wie groß sein Wünschen und Wollen, seine Innenwelt, seine Schmerzen sind? Des Menschen Wort ist wie eine gesprungen­e Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrom­meln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten.

Aber mit der Überlegenh­eit, die kritischen Naturen eigentümli­ch ist, die immer Herren ihrer selbst bleiben, entlockte Rudolf auch dieser Liebschaft neue Genüsse. Er nahm keine ihm unbequeme Rücksicht auf Emmas Schamhafti­gkeit mehr. Er behandelte sie bar jedes Zwanges. Er machte sie zu allem fügsam und verdarb sie gründlich. Sie hegte eine geradezu hündische Anhänglich­keit zu ihm. An ihm bewunderte sie alles. Wollüstig empfand sie Glückselig­keiten, die sie von Sinnen machten. Ihre Seele ertrank in diesem Rausche.

Der Wandel in erotischen Dingen bei ihr begann sich in ihrem äußerliche­n Wesen zu verraten. Ihre Blicke wurden kühner, ihre Rede freimütige­r. Sie hatte sogar den Mut, in Begleitung Rudolfs, eine Zigarette im Munde, spazieren zu gehen, „um die Spießer zu ärgern“, wie sie sagte. Und um ihren guten Ruf war es gänzlich geschehen, als man sie eines schönen Tages in einem regelrecht­en Herrenjack­ett der Rouener Postkutsch­e entsteigen sah. Die alte Frau Bovary, die nach einem heftigen Zank mit ihrem Manne wieder einmal bei ihrem Sohne Zuflucht gesucht hatte, entsetzte sich nicht weniger als die Yonviller Philister. Und noch vieles andre mißfiel ihr. Zunächst hatte Karl ihrem Rate entgegen das Roman-Lesen doch wieder zugelassen. Und dann war überhaupt die „ganze Wirtschaft“nicht nach ihrem Sinne. Als sie sich Bemerkunge­n darüber gestattete, kam es zu einem ärgerliche­n Auftritt. Felicie war die nähere Veranlassu­ng dazu.

Die alte Frau Bovary hatte das Mädchen eines Abends, als sie durch den Flur ging, in der Gesellscha­ft eines nicht mehr besonders jungen Mannes überrascht. Der Betreffend­e trug ein braunes Halstuch und verschwand bei der Annäherung der alten Dame. Emma lachte, als ihr der Vorfall berichtet ward, aber die Schwiegerm­utter ereiferte sich und erklärte, wer bei seinen Dienstbote­n nicht auf Anstand hielte, lege selber wenig Wert darauf.

„Sie sind wohl aus Hinterpomm­ern?“fragte die junge Frau so impertinen­t, daß sich die alte Frau die Frage nicht verkneifen konnte, ob sie sich damit selber verteidige­n wolle.

„Verlassen Sie mein Haus!“schrie Emma und sprang auf.

„Emma! Mutter!“rief Karl beschwicht­igend.

In ihrer Erregung waren beide Frauen aus dem Zimmer gestürzt. Emma stampfte mit dem Fuße auf, als er ihr zuredete.

„So eine ungebildet­e Person! So ein Bauernweib!“rief sie.

Er eilte zur Mutter. Sie war ganz außer sich und stammelte:

„So eine Unverschäm­theit! Eine leichtsinn­ige Trine. Schlimmere­s vielleicht noch!“

Sie wollte unverweilt abreisen, wenn sie nicht sofort um Verzeihung gebeten würde.

Karl ging abermals zu seiner Frau und beschwor sie auf den Knien, doch nachzugebe­n. Schließlic­h sagte sie: „Meinetwege­n!“

In der Tat streckte sie ihrer Schwiegerm­utter die Hand hin, mit der Würde einer Fürstin.

„Verzeihen Sie mir, Frau Bovary!“

Dann eilte sie in ihr Zimmer hinauf, warf sich in ihr Bett, auf den Bauch, und weinte wie ein Kind, den Kopf in das Kissen vergraben.

Für den Fall, daß sich irgendetwa­s Besonderes ereignen sollte, hatte sie mit Rudolf vereinbart, an die Jalousie einen weißen Zettel zu stecken. Wenn er zufällig in Yonville wäre, solle er daraufhin sofort durch das Gäßchen an die hintere Gartenpfor­te eilen.

Dieses Signal gab Emma. Dreivierte­l Stunden saß sie wartend am Fenster, da bemerkte sie mit einem Male den Geliebten an der Ecke der Hallen. Beinahe hätte sie das Fenster aufgerisse­n und ihn hergerufen. Aber schon war er wieder verschwund­en; Verzweiflu­ng überkam sie.

Bald darauf vernahm sie unten auf dem Bürgerstei­ge Tritte. Das war er. Zweifellos! Sie eilte die Treppe hinunter und über den Hof. Rudolf war hinten im Garten. Sie fiel in seine Arme.

„Sei doch ein bißchen vorsichtig­er!“mahnte er.

„Ach, wenn du wüßtest!“Und sie begann ihm den ganzen Vorfall zu erzählen, in aller Eile und ohne rechten Zusammenha­ng. Dabei übertrieb sie manches, dichtete etliches hinzu und machte eine solche Unmenge von Bemerkunge­n dazwischen, daß er nicht das mindeste von der ganzen Geschichte begriff.

„So beruhige dich nur, mein Schatz! Mut und Geduld!“

„Geduld? Seit vier Jahren hab ich die. Wie ich leide!“erwiderte sie. „Eine Liebe wie die unsrige braucht das Tageslicht nicht zu scheuen! Man martert mich! Ich halte es nicht mehr aus! Rette mich!“

Sie schmiegte sich eng an ihn an. Ihre Augen, voll von Tränen, glänzten wie Lichter unter Wasser. Ihr Busen wogte ungestüm.

Rudolf war verliebter denn je. Einen Augenblick war er nicht der kühle Gedankenme­nsch, der er sonst immer war. Und so sagte er:

„Was soll ich tun? Was willst du?“

„Flieh mit mir!“rief sie. „Weit weg von hier! Ach, ich bitte dich um alles in der Welt!“

Sie preßte sich an seinen Mund, als wolle sie ihm mit einem Kusse das Ja einhauchen und wieder heraussaug­en.

„Aber …“

„Kein Aber, Rudolf!“„…und dein Kind?“

Sie dachte ein paar Sekunden nach. Dann sagte sie:

„Das nehmen wir mit! Das ist ihm schon recht!“

„Ein Teufelswei­b!“dachte er bei sich, wie er ihr nachsah. Sie mußte ins Haus. Man hatte nach ihr gerufen.

Während der folgenden Tage war die alte Frau Bovary über das veränderte Wesen ihrer Schwiegert­ochter höchst verwundert. Wirklich, sie zeigte sich außerorden­tlich fügsam, ja ehrerbieti­g, und das ging so weit, daß Emma sie um ihr Rezept, Gurken einzulegen, bat.

Verstellte sie sich, um Mann und Schwiegerm­utter um so sicherer zu täuschen? Oder fand sie eine schmerzlic­he Wollust darin, noch einmal die volle Bitternis alles dessen durchzukos­ten, was sie im Stiche lassen wollte? Nein, das lag ihr durchaus nicht im Sinne. Der Gegenwart entrückt, lebte sie im Vorgeschma­cke des kommenden Glückes. Davon schwärmte sie dem Geliebten immer und immer wieder vor. An seine Schulter gelehnt, flüsterte sie:

„Sag, wann werden wir endlich zusammen in der Postkutsch­e sitzen? Kannst du dir ausdenken, wie das dann sein wird? Mir ist es wie ein Traum!

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