Donauwoerther Zeitung

Was eine Ansichtska­rte zu erzählen vermag

Die DZ lässt die Aktion Lesesommer in einem Leseherbst ausklingen. Da das Nordschwäb­ische Literaturf­estival ausfällt, schreibt der Donau-Rieser Autorenclu­b für unsere Zeitung. In Folge 12 erzählt Viktoria Raab von einer Kindheitse­rinnerung

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Es gibt Kindheitse­rinnerunge­n, die mich bis heute tragen. Zum Beispiel diese: Als ich 1955 in die große Schulklass­e zum Herrn Lehrer wechselte, war ich davon nicht begeistert, da dieser sehr streng und ungerecht war. Aber es brachte auch manche Vorteile mit sich, denn nun gehörten meine Klasse und ich zu den Großen. Jetzt durften wir in manchen Unterricht­sstunden zusammen mit den höheren Klassen arbeiten und das machte viel mehr Spaß. Ich erinnere mich noch gerne an die gemeinsame­n Sing- und Spielstund­en, aber auch an Heimat- und Erdkunde.

Da hing eine große Landkarte von Deutschlan­d hinter der Tafel, auf der wir mit verbundene­n Augen bedeutende Städte wie München, Augsburg, Nürnberg, Bonn oder Berlin finden mussten. Wenigstens die grobe Richtung war wichtig. Manchmal hingen auch Bilder von den Alpen an der Wand, diese liebte ich besonders. Mich fasziniert­en die hohen Berge mit ihren Seen und großen Bauernhöfe­n.

Auf den Wiesen grasten Kühe, am vorbeiflie­ßenden Bächlein stillten ein paar Rinder ihren Durst. Die Leute waren alle in Trachten gekleidet, was mir sehr gefiel. Ich schaute auch oft sehnsuchts­voll das kleine Bildchen an, das hinter der Schultüre hing. Es war gerahmt und zeigte die Kirche von Heilig Blut und die hohen Berge dahinter. Da möchte ich auch mal hin, war mein heimlicher Wunsch.

Umso größer war meine Freude, als dann im Juli 1955 unser Schulausfl­ug auf den Wendelstei­n geplant wurde. Endlich darf ich mal in die Berge und sogar auf den Gipfel fahren!, das konnte ich kaum glauben. Mit meiner Schwester sang ich zu Hause gerne alpenländi­sche Volksliede­r und Jodler, die wir im Radio hörten. Meine Tante, die Schneideri­n, nähte mir sogar ein Dirndl.

In der Schule lernten wir einige Lieder von den Bergen, die meine Sehnsucht noch verstärkte­n. Im Unterricht zeigte uns der Lehrer auf der Landkarte die Fahrtroute und erklärte uns den Tagesablau­f. Ich konnte es kaum erwarten, bis es endlich soweit war.

Mein neues Dirndl war fertig, dazu hatte meine Tante mir noch einen Stoffrucks­ack genäht und so ging es am 11. Juli 1955 in der Frühe los.

Mit einem eigenartig­en Gefühl stieg ich in den Bus. Dann sangen wir Lieder wie „Nun ade, du mein lieb Heimatland“oder „Wohl auf in Gottes schöne Welt“, sodass wir abgelenkt waren und uns nicht langweilig wurde. Bald fuhren wir an München vorbei und weiter an den Tegernsee, wo wir eine kurze Pause einlegten. Beim Aussteigen konnte ich mich gar nicht satt sehen - endlich in den Bergen, und sogar an einem See!

Ein glückliche­s Gefühl überkam mich. Allzu bald ging es weiter, über enge Straßen und Schluchten in Serpentine­n auf den Wendelstei­n hinauf. Als die Straße am Parkplatz endete, durften wir aussteigen. Aber wir waren ja noch nicht auf dem Gipfel. Wer ganz hinauf wollte, musste sich beim Herrn Lehrer melden. Ich war sofort dabei und wanderte mit ihm und einer kleinen Gruppe von Schülern den schmalen, steinigen Bergpfad entlang. Überwältig­t von der wunderschö­nen Gegend und der herrlichen Aussicht stapfte ich tapfer hinter meinen Schulkamer­aden drein.

Blumen säumten unseren Weg, weiter unten grasten Kühe, genauso, wie ich es von den Bildern in der Schule kannte. Der Wettergott hatte es gut mit uns gemeint und so kamen wir erhitzt von der Sonne am Wendelstei­nhaus an. Nach kurzer Rast stiegen wir zum Bergkirchl­ein auf und genossen die Stimmung an diesem Ort. Der Herr Lehrer stimmte ein Lied an und wir sagen alle mit. Ich war glückselig, so hoch droben in einem Kirchlein singen und beten zu dürfen. Draußen hatten wir einen herrlichen Ausblick weit über viele Berggipfel hinweg in den Süden. Nach Norden hin erstreckte­n sich weites, hügeliges Flachland und einige verstreut liegende Dörfer und Seen. Von da oben wirkte alles winzig klein und weit weg.

Bis hinauf zur Wetterstat­ion mussten wir noch ein Stück des Wegs zurücklege­n und dort wurde ein Gruppenfot­o zur Erinnerung an diese Bergbestei­gung aufgenomme­n.

Nach einer Picknick-Pause ging es zum Bus zurück. Auf den Weg dorthin nahm ich mir einen kleinen Stein mit, er sollte mich lange an meine erste Bergtour erinnern.

Vor der Abfahrt durften wir uns noch am Kiosk ein Andenken kaufen. Leider reichte mein Geld nur für eine Ansichtska­rte, aber immerhin war auf dieser unter einer Lasche ein echtes Edelweiß versteckt. Damit werde ich zu Hause zeigen, dass ich mit elf Jahren schon so hoch auf einem Berg war, nahm ich mir vor.

Den Stein und die Ansichtska­rte mit rückwärtig­er Aufschrift – wann, wo und wie – bewahrte ich lange in einer kleinen Schachtel bei meinen wichtigen Habseligke­iten auf. Mit der Zeit füllte sich diese Schachtel. Als ich kürzlich unter einem Stoß Ansichtska­rten die vom Wendelstei­n wieder fand, brachte sie mir diese schöne Erinnerung zurück.

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