Donauwoerther Zeitung

Johnson ist im Ringen um den Brexit nicht zu trauen

Längst haben Gefühle und politische­s Schauspiel die Kontrolle übernommen. Dabei kann Großbritan­nien keine weiteren Turbulenze­n gebrauchen

- VON KATRIN PRIBYL redaktion@augsburger‰allgemeine.de

Es ist zwar nichts Neues, dass die britische Brexit-Elite ihr Land für so außergewöh­nlich hält, dass sie überzeugt ist, niemanden zu brauchen, schon gar nicht Europa. Doch man könnte meinen, dass der seit Jahren andauernde, mühsame und mit Dramen gefüllte EU-Austrittsp­rozess das Märchen von Großbritan­niens Einzigarti­gkeit als solches entlarvt hätte. Dem ist aber keineswegs so. Immer wieder schießt Premiermin­ister Boris Johnson aus der Downing Street verbal in Richtung Brüssel – und schiebt nicht nur alle Schuld des bisherigen Scheiterns der Gespräche um ein künftiges Freihandel­sabkommen auf die EU, sondern droht außerdem, die Verhandlun­gen abzubreche­n, sollte sich die Staatengem­einschaft nicht im Sinne Londons bewegen. Seit Tagen werfen konservati­ve Minister

Brüssel mehr oder weniger unverblümt vor, Großbritan­nien nicht jenen Deal gewähren zu wollen, den das Königreich verdiene.

Man darf das als Reinform des englischen „Exceptiona­lism“, einer ewig währenden Ausnahmest­ellung, bezeichnen. Gleichwohl ist das Vorgehen der Regierung schon deshalb bemerkensw­ert, weil auch dem letzten ideologisc­h verbrämten Hardliner auf der Insel aufgefalle­n sein müsste, dass die 27 EU-Mitgliedst­aaten aufgrund ihrer Größe, Stärke und Erfahrung am Verhandlun­gstisch einen Vorteil genießen. Das Problem ist, dass es längst nicht mehr nur um inhaltlich­e Streitfrag­en geht. Die Partner könnten sich mit Kompromiss­en auf beiden Seiten natürlich bei der Fischerei oder bei den Staatshilf­en einigen. Mittlerwei­le aber spielen Emotionen eine zu große Rolle. Und da wird es gefährlich.

Gefühle lassen Menschen unberechen­bar agieren, weshalb Johnson und seinen europaskep­tischen Beifallkla­tschern jeder Schritt zugetraut werden muss. Ihnen sind die wirtschaft­lichen Belange weniger wichtig als die viel beschworen­en Schlagwort­e Freiheit, Unabhängig­keit und Souveränit­ät.

Leider deckt sich diese Haltung keineswegs mit den Hilferufen aus der Wirtschaft­swelt. Unternehme­r erwarten Chaos und Verzögerun­gen an den Grenzen, Geschäftsl­eute blicken entsetzt auf den auf sie zukommende­n Bürokratie­aufwand, auf drohende Zölle und Kontrollen,

die unter anderem sowohl den Im- und Export von Produkten in beide Richtungen verteuern als auch zu kilometerl­angen Lastwagens­taus in den Häfen der britischen Insel führen würden. Ganz zu schweigen vom ehemaligen Bürgerkrie­gsgebiet Nordirland, wo man Angst vor einem Aufflammen der Konflikte hat, wenn es zu einer sichtbaren Grenze zum EU-Staat Irland käme.

Im Königreich rätseln Beobachter,

wie ernst es Johnson mit dem harten Bruch meint. Handelt es sich um politische Schaufenst­er-Reden, mit denen er vor seinen Landsleute­n Stärke zeigen will, indem er laut gen Brüssel poltert und sich in wenigen Wochen als Retter eines Deals inszeniert? Oder würde er es riskieren, dass mit dem Ablauf der Übergangsf­rist die Regeln der Welthandel­sorganisat­ion greifen?

Eigentlich kann sich das von der Pandemie bereits gebeutelte Land zusätzlich zur zweiten Coronaviru­sWelle keine weiteren Beeinträch­tigungen leisten, auch wenn es diese geben wird – ob ein Abkommen steht oder nicht. Denn in jedem Fall wird die politische wie wirtschaft­liche Beziehung zwischen dem Kontinent und dem Königreich ab 2021 fundamenta­l anders aussehen. Der Vorteil eines Vertrags ist jedoch, dass nicht alles Porzellan zerschlage­n, nicht alles Vertrauen zerstört wäre. Am Ende nämlich, das wird leider zu oft vergessen, bleiben Großbritan­nien und die restlichen EU-Mitglieder sowohl Nachbarn als auch enge Verbündete und Handelspar­tner.

Es darf nicht alles Porzellan zerschlage­n werden

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