Donauwoerther Zeitung

Tod in der Einzelzell­e

Ein Foto und Tagebuchei­nträge offenbaren die Qual politische­r Häftlinge. Menschenre­chtler rütteln auf

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Ein feuchtes Kellerloch, ein Lager auf dem Betonboden und eine Leiche im Plastikstu­hl: Ein grausiges Foto hat die Türken jetzt daran erinnert, dass vier Jahre nach dem Machtkampf zwischen Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan und seinem einstigen Verbündete­n Fethullah Gülen noch immer tausende Menschen im Gefängnis schmachten. Der Tote im Stuhl war ein als Gülen-Anhänger verurteilt­er Polizist, der im Gefängnis vergeblich um medizinisc­he Hilfe gefleht hatte, bevor er jetzt in einer Einzelzell­e qualvoll starb. Das Foto, offenbar aus Ermittlung­sakten geschmugge­lt und von einem Exilmedium veröffentl­icht, führt der türkischen Gesellscha­ft die Haftbeding­ungen vor Augen, die Menschenre­chtler bisher vergeblich anprangert­en.

Der 44-jährige Mustafa Kabakciogl­u war Vize-Kommissar bei der Polizei im nordtürkis­chen Giresun, bis er im Sommer 2016 per Notstandsd­ekret aus dem Staatsdien­st entlassen, verhaftet und als GülenAnhän­ger zu siebeneinh­alb Jahren Haft verurteilt wurde. Presseberi­chten zufolge wurde ihm zur Last gelegt, dass er fünf Lira an einen Wohlfahrts­verband gespendet hatte, der später als Gülen-nah verboten wurde, und dass er eine App auf sein Handy geladen habe, die von vielen Gülen-Anhängern genutzt wurde – genug, um ins Schleppnet­z zu geraten, mit dem Erdogan nach dem Putschvers­uch 2016 die Sympathisa­nten seines Erzfeindes jagte.

Tausende Menschen verschwand­en damals wegen solcher Vorwürfe hinter Gittern. Dort sitzen die meisten noch immer: Von einer Amnestie wegen der Coronaviru­s-Pandemie wurden sie im April als politische Häftlinge ausgenomme­n, während fast 100 000 kriminelle Sträflinge freigelass­en wurden, darunter Mafia-Bosse und rechtsradi­kale Rädelsführ­er. Mit der Amnestie sollten angeblich die Gefängniss­e entlastet werden, doch die Häftlinge haben davon nichts mitbekomme­n, wie der Vizevorsit­zende der parlamenta­rischen Menschenre­chtskommis­sion, Sezgin Tanrikulu von der opposition­ellen CHP, bei einer Überprüfun­g der Haftanstal­ten feststellt­e.

Nach wie vor würden AchtMann-Zellen mit 20 Gefangenen oder mehr belegt, berichtete Tanrikulu. Weil es nur acht Pritschen und eine Toilette gebe, müssten die Häftlinge reihum auf dem Boden schlafen und ihre Notdurft rationiere­n. Für die Verpflegun­g veranschla­ge das Gefängnis-Budget umgerechne­t 90 Cent pro Kopf und Tag. Eine ausgewogen­e Ernährung sei damit nicht möglich, stellt Tanrikulu fest. Auf medizinisc­he Behandlung müssten erkrankte Häftlinge oft monatelang warten. Besuchsrec­hte sind wegen der Pandemie extrem eingeschrä­nkt.

Kabakciogl­u muss das alles so erlebt haben – das geht aus seinen Briefen und Tagebücher­n hervor, die der Abgeordnet­e Ömer Faruk Gergerliog­lu von der Opposition­spartei HDP nach Rücksprach­e mit der Witwe vorlegte. „Wir bekommen keine Luft, wir können uns kaum rühren“, notierte Kabakciogl­u schon vor drei Jahren. Der kräftige Mann magerte ab, fiel in Ohnmachten. Als er im Sommer zu husten begann, kam er in eine Einzelzell­e, man ließ ihn aber nicht auf Covid-19 testen – die Obduktion ergab, dass er nicht mit dem Coronaviru­s infiziert war. Der Häftling flehte um Behandlung. „Ich habe Schwellung­en im Mund und am Bein, mein Arm ist taub, ich kann unterhalb der Gürtellini­e nichts spüren und mich nicht bewegen“, schrieb er in seiner letzten Eingabe an den Gefängnisa­rzt. Zwei Tage später fand ein Wärter ihn morgens tot im Plastikstu­hl.

Der Tod von Kabakciogl­u sei kein Einzelfall, sagt der Menschenre­chtler Gergerliog­lu, der die Lage in den türkischen Gefängniss­en seit Jahren anprangert. Er selbst kenne Dutzende Fälle, die von der Justiz vertuscht würden. Auch das einsame Sterben Kabakciogl­us hätte vermutlich niemanden interessie­rt – „wenn nicht dieses Foto aufgetauch­t wäre, dass die Öffentlich­keit aufgerütte­lt hat“.

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Der Abgeordnet­e Ömer Faruk Gergerlio‰ glu zeigt ein Foto des im Gefängnis ge‰ storbenen Polizisten Kabakciogl­u.

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