Donauwoerther Zeitung

Mittendrin im Brennpunkt

Die Menschen im Berchtesga­dener Land trifft das, wovor sich viele fürchten: ein erneuter „Lockdown“. Was das bedeutet und wie Einwohner und Urlauber in der Alpen-Idylle damit umgehen

- VON MARIA HEINRICH UND ANDREA BAUMANN

Berchtesga­den/Augsburg Es könnte ein so wunderbare­r Herbsttag in Berchtesga­den sein. So wie man sich einen goldenen Oktobernac­hmittag eben vorstellt. Wie auf einem Postkarten­motiv leuchten die Blätter der Kastanien, Eichen und Linden in Gelb, Orange und Rot. Obwohl die Spitzen der umliegende­n Alpengipfe­l schon mit Schnee bedeckt sind, wäre es eigentlich noch warm genug, um den ganzen Tag an der frischen Luft zu verbringen. Um das letzte Eis des Jahres zu schlecken, mit Freunden einen Latte macchiato auf der Terrasse des Lieblingsc­afés zu trinken oder durch die Ortsmitte zu spazieren und in den vielen kleinen Läden zu bummeln. Doch wer durch die oberbayeri­sche Marktgemei­nde geht, stellt sofort fest, dass dieser Dienstag eben kein typischer Herbsttag ist.

Es ist kurz vor halb zwei, die kleinen Gässchen in der Ortsmitte sind wie leer gefegt. Die wenigen Menschen, die unterwegs sind, haben es eilig. Sie besorgen noch eine Kleinigkei­t beim Metzger oder im Schreibwar­engeschäft, dann eilen sie gleich wieder weiter. Ungefähr eine halbe Stunde bleibt ihnen noch Zeit. Dann müssen sie zu Hause sein. Und dort bleiben.

Denn ab 14 Uhr gilt im Berchtesga­dener Land eine Ausgangsbe­schränkung. Zwei Wochen lang dürfen die Menschen nur noch aus triftigen Gründen vor die Tür gehen, Schulen und Kitas bieten nur eine Notbetreuu­ng an. Hunderte Touristen müssen abreisen, Hotels, Sporthalle­n, Bars und Freizeitei­nrichtunge­n aller Art schließen.

Den Landkreis treffen die strengsten Corona-Maßnahmen in Deutschlan­d seit dem nationalen Lockdown im Frühjahr. Denn das Berchtesga­dener Land hält in diesen Tagen bundesweit einen NegativRek­ord. Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz, also der Wert der Neuinfekti­onen mit dem Coronaviru­s pro 100 000 Einwohner, liegt an diesem Dienstag bei 236.

Warum die Infektions­zahlen ausgerechn­et im Landkreis Berchtesga­dener Land so nach oben geschossen sind – die Behörden halten sich mit zurück. Landrat Bernhard Kern (CSU) spricht erneut von einem „diffusen Infektions­geschehen“. Manche spekuliere­n, dass die lokale Welle von einer Geburtstag­sfeier mit hundert Gästen ausging.

Dem widerspric­ht Landrat Kern – eine einzelne Feier sei nicht die Ursache gewesen. Andere vermuten, dass vom Nachbarort Kuchl auf österreich­ischer Seite etwas eingeschle­ppt wurde – Kuchl steht wegen hoher Zahlen unter Quarantäne. Dass das Virus von dort kam, halten Einheimisc­he jedoch für unwahrsche­inlich. Es gebe kaum Pendler.

Die hohen Infektions­zahlen beschäftig­en Politik wie Einheimisc­he. So wie die beiden Frauen, die auf dem Weg zur Parkgarage diskutiere­n, was jetzt eigentlich noch erlaubt ist und was nicht. Und den Mann, der mit seiner Tochter vor einem Restaurant auf das Mittagesse­n wartet, das die beiden zum Mitnehmen bestellt haben. Als er zu erzählen beginnt, tritt er erst mal zwei Schritte zurück, vergrößert den Abstand und rückt seine hellblaue Maske zurecht. „Ich halte die Maßnahmen für absolut notwendig“, sagt er. „Aber es ist schon irgendwie ungerecht. Die meisten halten sich an die Corona-Regeln, und dann gibt es ein paar Partys, und alle vernünftig­en Menschen müssen dafür büßen.“Es sei einfach Zufall, dass es das Berchtesga­dener Land als Erstes getroffen hat, vermutet er. „Ich glaube, das wird in nächster Zeit auch in anderen Landkreise­n passieren. Aber ich bin optimistis­ch, dass wir die Zahlen wieder in den Griff kriegen. Es sind ja nur zwei Wochen, das schaffen wir.“

Mit seiner Zuversicht ist er nicht allein, wenn man andere Passanten anspricht und sie fragt, was sie von dem regional beschränkt­en Lockdown halten. „Ich habe vollstes Verständni­s dafür“, sagt eine ältere Frau, die einem Fernseh-Journalist­en ein Interview gibt, von denen an diesem Tag so viele mit ihren KaAussagen meras, Mikrofonst­ändern und Smartphone­s durch Berchtesga­den streifen. So sieht es auch das Ehepaar, das um kurz vor zwei Uhr auf dem Weg nach Hause ist. „Wir unterstütz­en den Lockdown, das Wichtigste ist, dass wir jetzt alle gesund bleiben. Aber wenn man sich umschaut“, sagt die Frau und deutet mit ihrem Arm hinter sich, „dann ist es schon irgendwie ziemlich unheimlich.“

Man versteht, was sie meint. Es beschleich­t einen ein mulmiges Gefühl, wenn man sich umsieht. Wie die Polizei durch die Straßen patrouilli­ert. Wie Ladenbesit­zer mit gerunzelte­r Stirn vor ihren Geschäften stehen, weil keine Kunden mehr kommen. Die Fahrzeugsc­hlangen auf dem Weg zur Autobahn, viele Autos und Wohnwagen mit auswärtige­n Kennzeiche­n. Die Mutter, die mit ihren beiden kleinen Kindern die Straßensei­te wechselt, weil der Gehsteig zu eng ist, um den nötigen Abstand einzuhalte­n. „Dabei ist es bei uns doch so schön“, sagen Vater und Tochter, als sie die Papiertüte mit ihrem Mittagesse­n entgegenne­hmen und sich auf den Heimweg machen.

Fast 200 Kilometer Luftlinie trennen das Berchtesga­dener Land von Augsburg. Mit einer SiebenTage-Inzidenz von 124,5 und aktuell 446 Infizierte­n steht die 300000-Einwohner-Stadt hinter dem Landkreis Berchtesga­den an zweiter Stelle in der bayerische­n Rangliste der Risikogebi­ete. Dabei lagen die Corona-Zahlen in Augsburg im Vergleich zu ähnlich großen Städten monatelang unter dem Durchschni­tt. Nun aber haben einzelne größere Ansteckung­squellen im Zusammensp­iel mit generell steigenden Fallzahlen und einer höheren Testquote die Zahl der Infizierte­n in den vergangene­n Tagen stark ansteigen lassen. Die auffälligs­te Konsequenz: In der gesamten Innenstadt müssen Passanten auch im Freien einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Darüber hinaus herrscht in der Gastronomi­e um 22 Uhr Zapfenstre­ich. Es dürfen sich nur noch fünf Personen aus mehr als zwei verschiede­nen Haushalten treffen. Im Pflegeheim gelten strengere Besuchsreg­eln, und der Fußball-Bundesligi­st FC Augsburg musste zuletzt vor leeren Rängen antreten.

Doch genügen diese Maßnahmen, um die Pandemie in Schach zu halten? Oberbürger­meisterin Eva Weber spricht von einer „aktuell wirklich ernsten Lage“. Das Wort „Lockdown“nimmt die CSU-Kommunalpo­litikerin zwar nicht in den Mund, betont aber: „Ob die getroffene­n Maßnahmen ausreichen, hängt von der Entwicklun­g des Infektions­geschehens in den nächsten Tagen ab.“

In Berchtesga­den kündigt Landrat Bernhard Kern derweil an, dass am Mittwoch Soldaten der Bundeswehr eintreffen sollen, um das Landratsam­t bei der Nachverfol­gung der Infektions­ketten zu unterstütz­en. Das Wichtigste sei nun, dass die Bevölkerun­g die Einschränk­ungen mittrage. Er hoffe, damit bald wieder einstellig­e Zahlen beim sogenannte­n Inzidenzwe­rt zu erreichen – und die Schulen nach den Herbstferi­en am 9. November wieder öffnen zu können.

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Foto: Lennart Preiss, Getty Images Polizeibea­mte streifen am Dienstag durch das Zentrum von Berchtesga­den, um die Einhaltung der drastisch verschärft­en Coro‰ na‰Regeln zu kontrollie­ren.

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