Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (89)
Das war im Jahr 2004. Ich erinnere mich genau daran, wie die Amis eine neue irakische Fahne vorstellten. Es war eine Kopie der israelischen Fahne, in Blau und Weiß, aber statt dem Davidstern zeigte sie in der Mitte den Halbmond. Der neue Nahe Osten à la Bush sollte nach Religionen geordnet werden. Das war empörend. Tausende Iraker wollten nun gegen die Amerikaner kämpfen. Alle Bewerber mussten in Damaskus eine strenge Prüfung durchlaufen. Man wollte unbedingt verhindern, dass Spione unsere Truppe unterwanderten.“
„Und bist du je in den Irak gegangen?“, fragte Barudi neugierig.
„Natürlich. Nach zwei Jahren war ich Emir, verantwortlich für vier Trainingslager. Nicht nur als Emir, auch als Trainer musste man einmal im Jahr einen Monat lang im Irak kämpfen. Ich war in Bagdad, Falludscha und Basra.
Der syrische Plan ging auf. Bushs Mission wurde zum Desaster. Unter Obama war es endgültig aus. Da
aber zeigte das syrische Regime sein wahres, hässliches Gesicht. Wir waren nur da gewesen, um die Herrschaft des Präsidenten zu schützen, und nun brauchte er uns nicht mehr. Nach dem Motto: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Tausende von Kämpfern wurden weggeschickt. Wichtige Emire aber wollte der Geheimdienst, ganz nach dem iranischen Vorbild, als privilegierte Gefangene behalten, damit sie später Kämpfer aller Couleur trainieren konnten. Diese Kämpfer will das Regime gezielt einsetzen, um seine Herrschaft in Damaskus zu schützen. Emire und wichtige Kämpfer werden als Geheimnisträger also nicht freigelassen. Wer zustimmt, kommt in ein vornehmes Gefängnis und wartet dort auf seinen Einsatz. Wer ablehnt, wird umgebracht. Wir aber lehnten jede Verhandlung mit den ungläubigen Betrügern ab. Wir waren der Geist, den sie aus der Flasche geholt hatten, und nun wollten wir nicht mehr zurück.
Wir rebellierten zusammen mit den wenigen Männern, die noch in den Trainingslagern waren. Bald hatten wir viele arme enttäuschte Bauern auf unserer Seite, die sich zum wahren Weg des Glaubens bekannten. Und nach und nach vertrieben wir die syrische Armee und die Anhänger des Bergscharlatans aus unserem Gebiet. Die wollten wir nicht töten, wir haben nur einen Gegner: das Regime in Damaskus.“
„Und die Bauern hier lassen sich von der Scharia regieren? Sie lassen sich bei einem Diebstahl die Hand abhacken und bei einem Seitensprung steinigen? Auch die Christen?“, fragte Barudi und konnte seine Wut kaum verbergen.
„Langsam, langsam“, antwortete Scharif, „niemand hackt hier etwas ab und keiner fasst einen Christen auch nur an. Wir wollen eine islamische Republik mit gerechten Gesetzen, die Christen, die Christen … sie sind alle in Derkas, und wir haben sie bis jetzt verschont …“
„…bis jetzt! Wie großzügig“, empörte sich Barudi und achtete nicht auf Mancini, der ihm mit Gesten bedeutete, den Mann nicht zu beleidigen. Immerhin waren sie ihm ausgeliefert.
Barudi aber, der nie einen Sohn hatte, redete mit Scharif, als wäre er sein Kind. Mancinis Staunen kannte keine Grenzen, als Scharif überhaupt nicht wütend wurde, sondern mit Milde fortfuhr:
„Nein, lieber Zakaria, nicht großzügig, sondern selbstverständlich. Vergiss nie, dass ich dir und Basma mein Leben verdanke. Mein Leben lang werde ich meine Anhänger daran erinnern, dass wir alle, auch die Christen und Juden, Kinder Abrahams sind. Du kannst es in unserer kleinen Broschüre lesen.“Damit erhob er sich, ging zu einem Tisch mit Stapeln von Broschüren und brachte zwei Exemplare mit.
Mancini nutzte die Gelegenheit. „Kannst du dich nicht ein wenig beherrschen? Vergiss nicht, wofür wir in dieser gottverdammten Gegend sind“, knurrte er Barudi leise an und grinste dabei.
Barudi nahm die Broschüre nachdenklich entgegen, begann aber nicht zu lesen. „Lieber Scharif, du weißt, dass ich dich liebe, als wärst du mein Sohn. Ich wollte dich nur daran erinnern, was die anderen Islamisten im Namen des Islams tun.“
„Das weiß ich doch“, erwiderte Scharif, und Mancini atmete erleichtert auf.
34. Unverhoffte Helfer
Nachdem Barudi sich beruhigt und selbst ermahnt hatte, dass er hergekommen war, um einen Mord aufzuklären, und nicht, um Machtspiele zu korrigieren, wurde ihm klar, dass er und Mancini in der Nähe des intelligenten und dankbaren Scharif bestens geschützt waren. Dieser wollte Genaueres über ihre Mission wissen, und so erzählte ihm Barudi, weshalb er und der Journalist Roberto in den Bergen waren. Scharif hörte konzentriert zu, fragte zwischendurch nach Details und sah Barudi dann eindringlich an.
„Lieber Zakaria, ich verdanke dir mein Leben. Das weißt du. Aber noch mehr verdanke ich Basma, sie hat mir so viel Liebe geschenkt, wie ich sie von niemandem sonst je erfahren habe. Aber jetzt will ich euch meinen Plan darlegen. Die ganze Bergregion steht unter unserer Kontrolle, bis auf die Stadt Derkas, die letzte Bastion des Bergheiligen. Ich werde euch gleich noch erklären, warum wir die Stadt nicht erobern wollen. Aber jetzt geht es um eine andere Frage: Wer hat den Kardinal entführt und ermordet und wo ist sein Begleiter? Ihr könnt euch hier nicht frei bewegen, es sei denn, ihr seid lebensmüde. Hier im Zentrum unserer befreiten islamischen Republik gibt es besonnene Kämpfer, die einem Fremden, sei er Christ, Polizist oder italienischer Tourist, nicht sofort den Garaus machen. Im Landesinneren aber kann es passieren, dass irgendein Bandit euch etwas antut oder dass ein primitiver, unerfahrener oder nervöser Anhänger unserer Republik losballert, um dann die Leichen zu fragen, was sie hier zu suchen haben.“
Scharif lächelte, während Mancini laut lachte. Er kannte diesen Spruch aus einer billigen italienischen Krimisatire.
„Nein, ihr bleibt erst einmal hier. Ihr könnt bei mir wohnen, über meiner Wohnung gibt es eine freie Etage. Ihr könnt telefonieren, schreiben und seid geschützt, so wie ich geschützt bin. Ich werde die Mörder finden.“
„Wie willst du das anstellen?“„Nach allem, was ihr erzählt habt, müssen die Mörder Profis sein.
Zunächst werde ich überprüfen, ob einer von unseren Leuten etwas damit zu tun hatte. Ich glaube es allerdings nicht, denn davon hätte ich erfahren. Immerhin war der Ermordete ein Kardinal. Aber das lässt sich schnell klären.
Es gibt eine Spur, die vielversprechender ist. Hier ziehen marodierende Banden durch die Gegend, die ausnutzen, dass es noch keinen Staat gibt. Wir sind noch dabei, unsere Freiheit nach außen zu verteidigen. Die islamische Republik hat keine Chance, wenn die Gläubigen nicht aufstehen und dem Regime in vielen Städten den Krieg erklären.
»90. Fortsetzung folgt