Donauwoerther Zeitung

„Wenn die Zahlen hochgehen, verlieren wir die Kontrolle“

Fachärzte schlagen Corona-Alarm: Nur noch ein Drittel der Intensivbe­tten in Deutschlan­d ist frei

- VON STEFAN LANGE

Berlin Uta Merle ist als Ärztin an hohe Belastunge­n vielerlei Art gewöhnt. Die Auswirkung­en der Covid-19-Pandemie lassen aber auch bei ihr alle Alarmglock­en schrillen. „Wir müssen die Kontrolle behalten, das darf uns nicht entgleiten“, mahnt die ärztliche Direktorin am Universitä­tsklinikum Heidelberg. Zusammen mit dem Intensivme­diziner Matthias Kochanek vom Universitä­tsklinikum Köln und Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig berichtet sie über die aktuelle Corona-Lage.

Am Montag treten die neuen Corona-Regeln in Kraft. Sie sollen den Anstieg der Neuinfekti­onen bremsen. Aus medizinisc­her Sicht haben Bundeskanz­lerin Angela Merkel und die Ministerpr­äsidenten der Länder damit alles richtig gemacht. „Ich kann die politische Entscheidu­ng nur maximal unterstütz­en“, sagt Kochanek in einer Videokonfe­renz und seine Kollegin in Heidelberg stimmt zu: „Wenn die Zahlen weiter hochgehen, dann werden wir die Kontrolle verlieren.“

Die Lage an den Kliniken ist kritisch. Laut des Intensivbe­ttenregist­ers befinden sich mit Stand Freitag 1839 Menschen wegen Covid-19 auf einer Intensivst­ation. Genau die Hälfte muss beatmet werden. Von 21 682 Intensivbe­tten sind 7539 Betten frei. Hinzu kommt eine SiebenTage-Notfallres­erve von 12 732 Betten. Bayern kommt auf 3061 belegte und 1138 freie Betten, die Notfallres­erve wird mit 1892 Betten beziffert. Ernst ist die Lage, weil sich die Zahl der Corona-Intensivpa­tienten etwa alle zehn Tage verdoppelt.

Die Politik hat deshalb die Maßnahmen zunächst bis Ende November befristet. Gelingt es bis dahin nicht, den Anstieg der Neuinfekti­onen zu stoppen, droht den Kliniken der Notstand. Die Experten wagen keine Prognose, sind aber skeptisch: „Das Personal ist ausgelaugt“, sagt Kochanek und zollt den Leistungen der Pflegekräf­te höchsten Respekt. „Ich fühle mich in vielen Belangen völlig überbezahl­t im Vergleich zu dem, was Pflegekräf­te leisten müssen“, räumt er ein.

Im Winter sei in den Kliniken ohnehin mehr zu tun. Die Mediziner wollen deshalb im Gegensatz zum Frühjahr, als alles andere hinter Corona zurücksteh­en musste, notwendige Operatione­n trotz Pandemie vornehmen. „Wir müssen weiter Herzinfark­te, Schlaganfä­lle oder Krebsopera­tionen im Blick behalten“, sagte Merle. Gelinge das nicht, baue sich hier die nächste Welle auf.

An zwei Stellschra­uben muss nach Ansicht der Ärzte gedreht werden. Da ist zum einen der Umgang mit Menschen ab 60 Jahren. Die haben allein schon wegen ihres Alters ein um den Faktor 30 höheres Erkrankung­srisiko als Menschen mit Vorerkrank­ungen. „Wir haben viel zu wenig diskutiert, was man gezielt machen kann, um die hochbetagt­en Menschen vor dem Virus zu schützen, ohne sie zu sehr zu isolieren“, sagt Gérard Krause. Noch sei es aber nicht zu spät. Die andere Stellschra­ube ist das Personal. Das ist knapp, auch weil die Betreuung von Covid19-Patienten aufgrund der Schutzvors­chriften enorm aufwendig ist. „Wir können nicht einfach mal so ins Zimmer gehen“, erklärt Merle. Kochanek rechnet vor, dass das Anlegen der Schutzklei­dung jedes Mal zwischen drei und fünf Minuten dauert. Man müsse also genau überlegen, ob und wann man einen Patienten verlässt. Am Ende laufe es auf eine „1:1-Betreuung“hinaus.

Die Rekrutieru­ng ehemaliger Pflegekräf­te und Mediziner könne dem Personalma­ngel kurzfristi­g bedingt entgegenwi­rken. Auf lange Sicht brauche es aber eine bessere Bezahlung der hoch spezialisi­erten Intensivkr­äfte, eine Attraktivi­tätssteige­rung des Pflegeberu­fs und mehr gesellscha­ftliche Anerkennun­g, was an Krankenhäu­sern geleistet wird.

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Foto: Peter Kneffel, dpa Fachärzte schlagen auch in Deutschlan­d Corona‰Alarm: Die Zahl der Intensivbe­t‰ ten wird knapp.

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