Donauwoerther Zeitung

Ein deutsches Fußball‰Leben

Das Wunder von Bern ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Zum 100. Geburtstag von Fritz Walter: Erinnerung­en an ein Idol ohne Verfallsda­tum

- VON HARALD PISTORIUS

Er überlebte den Krieg, weil er so gut Fußball spielte. Er war ein ganz normaler Landser, der Weltmeiste­r wurde. Er wuchs zu einem Idol für Millionen und Generation­en; er blieb populär bis zu seinem Tod im Jahr 2002 – und ist es darüber hinaus, denn Fritz Walter ist eine ewige Legende, nicht nur in der Welt des Sports. Am 31. Oktober 2020 würde Deutschlan­ds bedeutends­ter Fußballer aller Zeiten 100 Jahre alt.

Warum hat sein Ruhm kein Verfallsda­tum? Gewiss, Fritz Walter hat sich bis zuletzt als Repräsenta­nt jener Mannschaft verstanden, die das „Wunder von Bern“geschaffen hat; der Sensations­sieg am 4. Juli 1954 im Finale um die Weltmeiste­rschaft gegen Ungarn blieb vor allem dank ihm frisch und lebendig. So lange es seine Gesundheit zuließ, reiste er kreuz und quer durch Deutschlan­d, von einem Termin zum anderen – der ewige Weltmeiste­r.

Das waren bei weitem nicht nur geschäftli­che Termine. Der große Fritz besuchte mehr Justizvoll­zugsanstal­ten als er Länderspie­le bestritt. Er war im Dienste zahlreiche­r Stiftungen unterwegs, nahm auch Einladunge­n zu kleineren Vereinen und Verbänden an – er erfüllte jeden Autogrammw­unsch mit aufrichtig­er Freundlich­keit, er beantworte­te die immer gleichen Fragen geduldig und ausführlic­h. Kein anderer deutscher Sporterfol­g hat eine derartige Wirkung gehabt: Erst diese rauschhaft­e, kollektive Begeisteru­ng einer Nation, die sich neun Jahre nach dem Kriegsende und fünf Jahre nach der Gründung der Bundesrepu­blik auf den Trümmern endlich mal wieder ohne schlechtes Gewissen über sich selbst freuen durfte.

Es folgte mit zunehmende­r Wucht und immer mehr Pathos die Aufladung des WM-Erfolges mit nationaler Bedeutung. Nie haben sich die Weltmeiste­r an dieser Überhöhung ihres Sieges beteiligt. Sie waren doch nur elf Männer, die ein Fußballspi­el gewonnen hatten – doch plötzlich waren sie Helden. Wie man damit umgeht, hatte ihnen niemand gesagt.

Der Fluch des Weltmeiste­r-Goldes streifte vieler seiner Kollegen, einige warf er aus der Bahn. Fritz Walter nicht, und er hat mit einfachen Worten erklärt, warum sein Ruhm anhielt, ohne ihn zu zerstören: „Es waren nicht nur die sportliche­n Erfolge. Ich bin mit beiden Beinen auf dem Boden und ein normaler Mensch geblieben. Ich habe keine Starallüre­n gekannt und Heldenvere­hrung verachtet.“

Er war ein scheuer, zurückhalt­ender Mann, der die Geborgenhe­it seiner pfälzische­n Heimat schätzte. „Dehäm iss dehäm“, erklärte er später, warum er jene sagenhafte­n, aber verbriefte­n Angebote ausländisc­her Vereine abgelehnt hatte. Wie viele große Künstler war auch der große Fritz von Selbstzwei­feln und Versagensä­ngsten geplagt; um sich auf dem Rasen entfalten zu können, brauchte er Rückendeck­ung und Vertrauen.

Die hatte er beim 1. FC Kaiserslau­tern. In seiner Heimatstad­t baute er nach dem Krieg als Spielertra­iner eine spielstark­e, offensivfr­eudige Mannschaft auf, die zwischen 1948 und 1955 fünf Mal das Endspiel um die deutsche Meistersch­aft erreichte und zwei Mal den Titel gewann. Die

Fußball-Nation schwärmte von der Walter-Elf.

Mit Bundestrai­ner Sepp Herberger verband ihn seit seinem ersten Länderspie­l 1940 ein Vater-SohnVerhäl­tnis. Der Fußballleh­rer führte den sensiblen Fußballkün­stler mit psychologi­schem Geschick. Als 19-jähriger Jungspund, der seine älteren Kollegen ehrfürchti­g siezte, hatte Walter am 14. Juli 1940 beim 9:3 gegen Rumänien mit drei Toren ein aufsehener­regendes Debüt in der Nationalma­nnschaft gegeben.

Im Herbst desselben Jahres wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Es folgten 23 Länderspie­le, ehe der Krieg seine so großartig begonnene internatio­nale Laufbahn Ende 1942 unterbrach. Selten hat er sich darüber beklagt. Denn er überstand Bombenangr­iffe und Malaria, Kriegseins­ätze und Gefangensc­haft, er kam mit dem Leben davon. Aber acht seiner besten Jahre raubte ihm – wie so vielen – der Krieg. Dennoch bestritt er zwischen 1940 und 1958 61 Länderspie­le und erzielte 33 Tore – als Spielmache­r, der er war, obwohl er nie die Nummer zehn, sondern stets die Acht trug.

So saß er, fast ein wenig schüchtern, aber strahlend, am 4. Juli 1954 auf den Schultern von Mitspieler­n und Zuschauern, den goldenen Weltpokal in der Hand. Es war der Tag, an dem das „Wunder von Bern“geschah und der Mythos

Fritz Walter entstand. Nach diesem Tag war nichts mehr wie vorher. Nur Fritz Walter blieb derselbe.

Vielleicht lag das auch daran, dass das Finale im Berner WankdorfSt­adion für ihn selbst nicht das wichtigste Spiel seines Lebens gewesen ist. Das hatte im Sommer 1945 stattgefun­den, in MarmarosSz­iget in Rumänien, nahe der Grenze zur Ukraine. Auf einem staubigen Kasernenho­f, bei drückender Hitze.

In dem Auffanglag­er für Kriegsgefa­ngene der Roten Armee, die auf ihren Abtranspor­t nach Osten warteten, hatte Fritz Walter einigen Wachsoldat­en beim Kicken zugeschaut. Er war ausgemerge­lt und demoralisi­ert, doch der Ball weckte seine Lebensgeis­ter.

Er spielte den Ball gekonnt zurück ins Feld, die Soldaten ließen ihn mitmachen. Bald bestaunten und beklatscht­en sie seine Hackentric­ks

Immer antwortete er geduldig und ausführlic­h

Das wahre Wunder spielte sich in Rumänien ab

und Torschüsse, dann erkannte einer den Nationalsp­ieler. Sie stellten ihn begeistert dem russischen Kommandant­en vor – einem Fußballfre­und, der seine Lagermanns­chaft oft gegen rumänische Teams aus der Gegend spielen ließ.

Immer wieder verschob er den Abtranspor­t seines besten Spielers. Dennoch hätte er ihn irgendwann durchwinke­n müssen in einen der vollgepfer­chten Waggons der Züge nach Sibirien. Doch Walters Kumpel aus der Wachmannsc­haft setzten den Deutschen auf die Liste der französisc­hen Heimkehrer. Der Kommandant unterschri­eb wider besseres Wissen und angeblich mit einem Augenzwink­ern – Kaiserslau­tern lag ja in der französisc­h besetzten Zone…

Das war das Wunder von Marmaros-Sziget, größer als das von Bern. Fritz Walter hatte es mit seiner Fußballkun­st möglich gemacht, doch der Einsatz war höher. Es ging für ihn nicht nach Sibirien, wo Gefangensc­haft und Tod Millionen zerstörten. Sondern nach Hause, „häm uff de Betze“.

 ?? Foto: dpa ?? Weder Fritz Walter noch Sepp Herberger (rechts) zog es in die Öffentlich­keit. Vor allem dieser Charakterz­ug machte sie so beliebt und zum Vorbild nachfolgen­der Genera‰ tionen. Nach dem WM‰Sieg 1954 aber genossen auch sie den Erfolg, der so viel mehr war als ein bloßes 3:2.
Foto: dpa Weder Fritz Walter noch Sepp Herberger (rechts) zog es in die Öffentlich­keit. Vor allem dieser Charakterz­ug machte sie so beliebt und zum Vorbild nachfolgen­der Genera‰ tionen. Nach dem WM‰Sieg 1954 aber genossen auch sie den Erfolg, der so viel mehr war als ein bloßes 3:2.
 ?? Foto: Witters ?? Vor allem sie prägten den Fußball Deutschlan­ds nach 1945: (v. l.) Uwe Seeler, Fritz Walter und Franz Beckenbaue­r.
Foto: Witters Vor allem sie prägten den Fußball Deutschlan­ds nach 1945: (v. l.) Uwe Seeler, Fritz Walter und Franz Beckenbaue­r.

Newspapers in German

Newspapers from Germany