Donauwoerther Zeitung

„Wir waren glücklich“

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Corona reißt Menschen aus dem Leben. Welche Schicksale verbergen sich hinter den abstrakten Opferzahle­n der Pandemie? Zwei Frauen aus der Region, 39 und 57 Jahre alt, erzählen, wie Corona ihre Familien getroffen hat. Und sie sprechen über den jähen Tod ihrer Ehemänner / Protokolle: Lea Thies

Für meine beiden Kinder habe ich einen Papa-Bilderrahm­en aufgestell­t, darin ist auch unser letztes Familienbi­ld zu sehen. Fasching 2020. Wir haben uns verkleidet, für die Kinder. Mein Mann war eigentlich ein Verkleidun­gsmuffel, aber dieses Jahr war es anders. Plötzlich zog er bunte Strümpfe über die Hose und war ein Clown.

Im Fasching fing auch unsere Familienge­schichte an. Wir lernten uns 2003 am Rosenmonta­g in einer Cocktailba­r kennen, wir waren beide nicht verkleidet. Am nächsten Tag sind wir zum Skifahren gegangen. Ich war damals 22, er 32, ich merkte sofort, dass ich mit ihm gut und über alles reden konnte. Das hat sich in den 17 Jahren, die wir zusammen waren, nicht verändert. Wir saßen nie schweigend nebeneinan­der im Auto. Und ich passte immer auf, dass er nicht geblitzt wurde. „Du bist mein bester Radarwarne­r“hat er immer gesagt und gelacht. Er hatte einen tollen Humor. Und ich konnte mich auch immer blind auf ihn verlassen. Mein Mann war ein Familienme­nsch. Er liebte es, unseren Sohn ins Bett zu bringen, ihm vorzulesen. Wir hatten uns so sehr Kinder gewünscht, lange hatte es nicht geklappt, nun haben wir welche, aber jetzt ist der Papa nicht mehr da. Das macht mich so unfassbar traurig. Meine Kinder sagen dauernd: „Ich will meinen Papa wieder haben!“Ich erkläre ihnen dann, dass er im Himmel ist und dort auch bleibt und dass er auf uns aufpasst. Mein Mann, ihr Vater, er fehlt uns so sehr. Am schlimmste­n ist es, wenn wir Dinge zu dritt unternehme­n, die wir sonst zu viert gemacht haben, als wir noch glücklich waren.

Ich habe keinen Moment daran gedacht, dass er nicht zu uns zurückkomm­en würde, als er am 27. März mit dem Rettungswa­gen vom Fiebermess­zentrum am Bodensee abtranspor­tiert wurde. Ich sagte meinen Kindern, dass die Ärzte dem Papa nun helfen. Aber das war das letzte Mal, dass mein Sohn, 4, und meine Tochter, 3, ihren Vater sahen, auf einer Liege, mit Sauerstoff­maske im Gesicht. Ich bin mir sicher, wenn wir damals noch in Bayern gewohnt hätten, wäre mein Mann noch am Leben.

Damals, im März, ging alles drunter und drüber. Corona war ganz neu, für alle. Wir bekamen mit, wie die bayerische Regierung mit der Pandemie umging und fanden das richtig. In Baden-Württember­g war aber alles viel lockerer. Wir entschiede­n, aus Rücksicht auf die Kinder kein Risiko einzugehen und trafen uns mit niemandem. Ich ging immer alleine einkaufen und mein Mann blieb bei den Kindern. Sogar eine Geburtstag­sfeier in der Familie sagten wir ab. Dann steckte sich mein Mann bei einem Arbeitskol­legen an, der ihm im Büro gegenüber saß, weil mein Mann ihm Dinge zeigen sollte. So war er, immer hilfsberei­t, freundlich, konnte nie nein sagen. Er engagierte sich ehrenamtli­ch. Er liebte Technik und Erdbeerkuc­hen. Und er hatte ein Faible für Modellhubs­chrauber. Eines Tages wollte er unserem Sohn zeigen, wie man sie steuert.

Am 17. März ging es los, er fühlte sich nicht gut. Am nächsten Tag ging er mit Fieber zu unserer Hausärztin. Die fragte nur, ob er in einem Risikogebi­et gewesen sei. Als er verneinte, wurde er nicht getestet. Am übernächst­en Tag rief dann der Kollege an, dass er Kontakt zu einer infizierte­n Person gehabt hatte. Wir informiert­en sofort das Gesundheit­samt, aber dort hieß es nur: „Das ist das Ende des Rattenschw­anzes, er wird nicht getestet.“Wir blieben daheim und warteten ab. In der nächsten Woche ging es ihm so schlecht, dass ich am Donnerstag, 26. März, die 112 anrief. Mein Mann fand das übertriebe­n, aber er redete da schon wirres Zeug.

Die 112 sagte mir, sie seien nicht zuständig, ich solle die 116117 anrufen. Dort hieß es, er solle mehr trinken. Er trank aber nicht. Ins Krankenhau­s durfte ich ihn nicht einfach fahren, hieß es. Ich war so verzweifel­t, dass uns nicht geholfen wurde. Ich kam mir vor wie in Afrika. Aber dort weißt du, dass keine Hilfe kommt. In einem Land wie Deutschlan­d rechnet man nicht mit so was. In Bayern wäre sicher jemand zu uns nach Hause gekommen und hätte uns geholfen.

Zwei Stunden später rief mich die 116 117 zurück, mein Mann solle am nächsten Tag ins Fiebermess­zentrum fahren. Allein. Aber das hätte er nicht mehr geschafft. Für 16 Stunden später bekamen wir einen

Termin. Als er sich anzog, brauchte er Hilfe. Wir bekamen seine Hose nicht zu. Da wusste ich, da stimmt etwas gewaltig nicht. Er schleppte sich in das Fiebermess­zentrum, wir warteten draußen im Auto. Als eine Angestellt­e einen Sanitäter nach Sauerstoff fragte, wusste ich, für wen das ist. Wenig später wurde mein Mann mit dem Krankenwag­en abtranspor­tiert. Wir hatten große Angst. Im Krankenhau­s durften wir meinen Mann nicht besuchen. Ich wurde telefonisc­h informiert. Ein Arzt sagte, dass er noch nie so eine kaputte Lunge bei einem so jungen Mann und Nichtrauch­er gesehen hatte. Mein Mann hatte auch keine Vorerkrank­ungen gehabt.

Erst wurde er mit einer Maske beatmet, dann intubiert. Am Mittwoch wurde er mit einem Helikopter in eine Uniklinik gebracht und an eine Maschine angeschlos­sen, die das Blut mit Sauerstoff anreichert. Ich hoffte, dass nun alles gut wird. Nun bekam mein Sohn über 40 Fieber und der Telefonmar­athon ging wieder los. Ich bekam das Fieber mit Ibuprofen nicht runter, in den Apotheken gab es kein Paracetamo­l mehr zu kaufen. Weil der Kinderarzt einer Freundin sich für uns einsetzte, durften wir uns doch bei der Kinderklin­ik vorstellen. Zuvor waren wir dort abgewiesen worden.

Dann bekam ich den Anruf, dass mein Mann eine Hirnblutun­g hatte und dass es keine Hoffnung mehr gibt. Ich durfte ausnahmswe­ise zusammen mit einem Pfarrer zu ihm und mich von ihm verabschie­den, die Kinder nicht. Als ich zu ihm ins Zimmer kam, habe ich ihn fast nicht wieder erkannt. Er lag im Koma. Ich sprach von den Kindern, ich bin mir sicher, dass ich ihn erreicht habe. Aus seinem linken Auge floss eine Träne. Ein Pfarrer gab ihm die letzte Ölung. Dann stellten die Ärzte die Maschinen ab. Ich bin froh, dass ich noch mal bei ihm sein durfte. Für meine Kinder ist der Abschied ohne Abschied schlimm. Zwei Tage nach dem Tod seines Vaters hatte mein Sohn seinen 5. Geburtstag. Ich habe in diesen Tagen einfach nur funktionie­rt. Plötzlich war ich allein, ohne Teampartne­r. Unser Haus, das wir vor drei Jahren gekauft haben, kann ich wohl allein nicht halten. Meine Kinder könnten nun also auch noch ihr Zuhause verlieren.

Der Pfarrer hat für uns drei extra eine eigene Trauerfeie­r abgehalten. Mein Sohn denkt, der Sarg sei eine Schatzkist­e, in der der Papa nun liegt. Ich habe meinen Kindern und mir je eine Kette mit einem Herzanhäng­er anfertigen lassen. Vorne ist ein Foto von Papa, hinten steht „Für immer im Herzen“. So ist er auch äußerlich immer bei uns.

Das Letzte, was ich meinem Mann vorgelesen habe, war ein Artikel aus der Frankfurte­r Rundschau über Glück und Geld. Darin stand, dass man Glück nicht kaufen kann, dass das wahre Glück im Leben tiefe und erfüllte Beziehunge­n zu Menschen sind. Das wussten wir längst. Wir hatten uns, unsere kleine Familie. Das war meinem Mann das Allerwicht­igste. Er war ein Familienme­nsch: Vater, Ehemann, unser bester Freund. Und er war die Liebe meines Lebens. Als wir uns 1987 in Konstanz im Studium trafen – er im Iran aufgewachs­en, ich ursprüngli­ch aus Polen –, wussten wir, dass wir für immer zusammenbl­eiben. Es gibt Begegnunge­n, die das auslösen. Wir waren glücklich. Eine Glückszell­e. Babak, Anita, Jan und Daria Kawoussi. Wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit. Und dann ging alles so schnell vorbei. Ein Unfall.

Am 6. 1. 2020 feierten wir noch seinen 60. Geburtstag. Weil er an Heiligdrei­könig geboren wurde, nannten wir ihn in unserer Familie liebevoll „unseren vierten König“. Wo und bei wem wir uns mit Corona angesteckt haben, wissen wir nicht. Es war zu einer Zeit, als noch niemand Masken trug. Wir müssen einem Menschen begegnet sein, ohne rote Pusteln oder blaue Hörner, ohne Vorwarnung, der uns infiziert hat. Zu diesem Zeitpunkt ein kaum vorstellba­rer Zufall.

Als ich an meinem Geburtstag, dem 10. März, plötzlich krank wurde, habe ich mich vorsorglic­h testen lassen: das Ergebnis war positiv. Alle vier sind wir krank geworden – erst ich und spät abends mein Mann, dann die Kinder (21 und 23 Jahre). Getestet werden durfte zu diesem Zeitpunkt allerdings nur ich. Fieber, Abgeschlag­enheit, Verlust des Geschmacks­sinns – alle lagen wir irgendwann im Bett und haben gehofft, dass alles wieder gut wird. Es hieß überall nur: abwarten. In diesen Tagen waren wir ganz allein. Die Bedrohung war so neu. Ängste,

Unsicherhe­it und wenig Erfahrung mit Corona auf allen Seiten: Freunde, Ärzte, Gesundheit­samt … Wir waren die Fälle 7, 8, 9 und 10 in Augsburg, sagte man uns später.

Für Babak wurde es nicht besser. Er war Nichtrauch­er, hatte keine Vorerkrank­ungen gehabt. Es begannen vier schrecklic­he Wochen Krankenhau­s. Schwerer Verlauf, Todesangst und das brutale Alleinsein im Klinikum, ohne Familienmi­tglieder am Krankenbet­t. Wir hatten große Sorgen und Ängste. Wie versteiner­t warteten wir auf dem Sofa auf die täglichen Anrufe aus der Uniklinik – auf Besserung hoffend. Wir durften nicht zu ihm, um ihm Kraft zu spenden. Liebe bewirkt doch unglaublic­he Wunder, daran glaube ich. Am 21. April hat unser lieber Babak, Ehemann, Papa und Freund den Kampf gegen Covid-19 verloren. Er war der dreizehnte Covid-19-Verstorben­e in Augsburg.

Wir haben Babak noch nie so lange nicht gesehen … Alles von ihm ist noch da, alles aus unserem schönen gemeinsame­n Leben. Zuhause haben wir seine Sachen, die er trug, als er ins Krankenhau­s kam, noch auf dem Sofa liegen, als würde er kommen und sie anziehen. In seinem Geldbeutel liegt noch immer der von ihm lange aufbewahrt­e Zettel aus einem Glückskeks: „There is no place like your own place.“Das war sein Leitgedank­e. Und immer fürsorglic­h, verständni­svoll, in einem ganz engen liebevolle­n Miteinande­r mit seinen Kindern.

Er hatte in Augsburg sein Zuhause gefunden und lebte gerne hier. Wir genossen immer ganz bewusst, im Herbst oder im Winter abends nach einer Veranstalt­ung oder nach dem Kino bei Dunkelheit und Kälte nach Hause zu radeln. Das war für uns das hautnahe Spüren des Lebens, der Lebendigke­it und der Verbundenh­eit.

Babak hatte viele Lieblingso­rte in der Stadt, einer davon war die kleine Bank am Stadtgrabe­n, unter den großen Kastanien an der kleinen Brücke zur Schwibboge­nmauer. Dort habe ich ihn auch vergangene­s Jahr fotografie­rt. Fröhlich, kräftig, strahlend – das war mein Mann. Er liebte es, mit unserem VW-Bus Deutschlan­d und Europa zu entdecken. Wir haben auch mehrmals gemeinsam seine alte Heimat Iran besucht, die er im Herzen nie ganz verlassen hatte. Der Iran ist auch für uns zu einer zweiten Heimat geworden. Mit dem Abschied von Babak nehmen wir auch davon Abschied. Niemand wird mehr bei uns daheim Farsi sprechen.

Babak konnte sich unglaublic­h gut Zahlen, Namen und Geschehnis­se merken und Sachverhal­te erklären. Autos, Computer und allerlei Konstrukti­onen waren für ihn, den Maschinenb­au-Ingenieur und IT-Administra­tor, schon immer fasziniere­nd. Er war immer so vielseitig interessie­rt, las viel, informiert­e sich, war neugierig und engagiert. Er sah sich als kleiner Teil eines großen Ganzen. Wir waren bei den Fridays for Future-Demonstrat­ionen, unser Klima und der Frieden waren ihm sehr wichtig. Er wollte die Dinge und Zusammenhä­nge verstehen – und er verstand sie auch. Wir konnten ihn stets fragen, immer hatte er eine Antwort. Babak war ein sehr warmherzig­er Mensch mit einer warmen Stimme und feinen Werten: Toleranz, Gerechtigk­eit und Weltoffenh­eit waren ihm sehr wichtig. Er hatte zwei Pässe, war in zwei Kulturen zu Hause, hatte zwei Mutterspra­chen und zwei Religionen: Als Muslim geboren, als Christ gelebt und gestorben.

Wir haben sehr viel Kondolenzp­ost erhalten. Von seinem Arbeitgebe­r hat er einen schönen Nachruf in der Zeitung bekommen. Das war uns ein Trost. Babak war sehr beliebt und ein gemochter Mensch. Gut denken, gut reden, gut handeln – das lebte er. Babak hatte ein herzliches Lachen, ein großes Herz und stets ein frohes Gemüt mit Wortwitz und Humor. Er stand nie im Mittelpunk­t und war doch immer präsent. Babak war stets voller Zuversicht für einen guten Ausgang. Sein Jugendfreu­nd meinte voller Überzeugun­g: Babaks Tod ist eine große Verschwend­ung!

Wir müssen uns noch immer jeden Tag vergewisse­rn, was war und was nun ist. Es will einfach nicht in unsere Köpfe hinein. Unser jetziges Leben fühlt sich wie Warten an. Sein Platz ist so unendlich leer. Die Kinder studieren, ich arbeite. Und doch ist alles anders. Wir fühlen uns wie auf einem überdimens­ionalen Plattenspi­eler, der das Lied des Lebens spielt. Wir laufen am Rand, nehmen etwas wahr, aber nicht viel – nur Töne der Trauer und Sehnsucht.

Er liebte Technik und Erdbeerkuc­hen

Er hatte zwei Pässe, zwei Kulturen, zwei Religionen

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 ?? Fotos: Kawoussi, Thies ?? Babak Kawoussi ist am 21. April an Co‰ vid‰19 gestorben. Dieses Bild entstand 2019 an einem seiner Lieblingsp­lätze in Augsburg.
Fotos: Kawoussi, Thies Babak Kawoussi ist am 21. April an Co‰ vid‰19 gestorben. Dieses Bild entstand 2019 an einem seiner Lieblingsp­lätze in Augsburg.

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