So stark trifft die Pandemie gehörlose Menschen
Für Gehörlose bedeuten die bestehenden Pandemie-Beschränkungen zusätzliche Härte und Isolation. Sie brauchen Gestik und Mimik, um sich zu verständigen. Mitglieder des Hörgeschädigten-Vereins Nordschwaben erzählen
Weil das Telefon als Kommunikationsmittel wegfällt, treffen die Kontaktbeschränkungen gehörlose Menschen besonders hart.
Landkreis/Nordschwaben Der große, lichte Saal mit seiner Küchentheke ist das Herzstück im Gehörlosenzentrum Nordschwaben. Treffpunkt für gesellige Zusammenkünfte aller Art. Ein Ort für lebhaftes Treiben. Doch in diesen Tagen wirkt er nur noch unwirtlich und unbelebt. Corona hat nichts als Schweigen und Leere dort hinterlassen. Auch im angrenzenden Garten herrscht gähnende Leere.
Damit unterscheidet sich das Gehörlosenzentrum auf den ersten Blick nicht von anderen Vereinsheimen. Überall fordert das Gebot der Kontaktbeschränkung seinen Tribut. Doch taube Menschen sind ein Stück weit härter davon betroffen. Der Weg in die Isolation ist stärker vorprogrammiert, als bei Gesunden, die über alle Sinne verfügen. Denn ein wichtiges Mittel der Kommunikation fällt für Gehörlose weg: das Telefon. Alleinstehende ältere Menschen, die keinen Zugang zum Computer haben, sind da nicht selten ganz auf sich gestellt.
„Corona ist unglaublich schwer für uns Gehörlose“, schildert Johannes Richter gestikulierend. „Seit Mitte März haben wir keine einzige Stunde hier verbracht. Corona hat uns wie der Blitz getroffen und wir wussten überhaupt nicht, wie wir damit umgehen sollen.“Der Vorsitzende des Hörgeschädigten-Vereins Nordschwaben spricht für viele Mitglieder, die derzeit alle ähnliche Erfahrungen machen. Sie kommen nicht nur aus der Region, sondern auch aus ganz Schwaben und dem oberbayerischen Raum. Der Verein mit seinem Sitz in DonauwörthNordheim ist einer der größeren der insgesamt 43 im Freistaat. Es gibt ihn seit 1933.
Drei bis vier Mal pro Monat haben sich die Mitglieder früher dort im Gehörlosenzentrum getroffen, um einfach zusammen zu sein und sich auszutauschen. Sie haben außerdem Grillfeste und Weihnachtsfeiern veranstaltet, haben einen Maibaum im Garten aufgestellt, zu Seniorentreffen und Bastelnachmittagen eingeladen, haben Weiterbildungen angeboten und sind miteiRenate nander zum Turnen, zum Wandern, zum Nordic Walken gegangen. Jetzt gibt es das alles nicht mehr.
„Mir war als Vorsitzendem nicht bewusst, wie schön das ist, wenn sich alle treffen und miteinander freuen“, sagt Johannes Richter. „Jetzt ist es so still hier. Ich vermisse das alles unglaublich.“Wenn der 54-Jährige erzählt, tut er das mit viel Gestik und Mimik. Seine Worte, die er gelernt hat, zu artikulieren, sind oft gut zu verstehen, manchmal auch weniger. Aber GebärdensprachenDolmetscher Günther Seuberth ist an diesem Vormittag – wie so oft – zur Stelle und übersetzt. Er ist die Brücke zwischen der tauben und der hörenden Welt. Und so kommt es an diesem Vormittag beim Gespräch mit unserer Zeitung zum lebhaften Austausch.
Für Gehörlose ist Pantomime ein wichtiges Ausdrucksmittel. Es sind nicht nur die Hände, mit denen sie sprechen, sondern es ist auch die mimische Kommunikation. Deshalb ist es eine besondere Härte für sie, Mund-Nase-Schutz tragen zu müssen. „Kommunikation mit Gesichtsmaske ist für Gehörlose nicht möglich“, erklärt Günther Seuberth. „Das Gesamtbild ist wichtig, um einander zu verstehen. Daher war es so bedeutend für uns, dass die Bayerische Staatsregierung Ende Mai entschieden hat, dass Gehörlose beim Sprechen die Masken abnehmen dürfen.“
Auch im Gespräch mit Hörenden ist es ihnen wichtig, deren Mimik zu erkennen und gegebenenfalls von den Lippen abzulesen, was allerdings aufgrund der verschiedenen Dialekte oft nicht so einfach sei, wie Dolmetscher Seuberth erzählt.
Und auch bei der Gebärdensprache spielen Dialekte eine Rolle. Eine
Einheitliche gibt es nämlich laut Seuberth nicht. Grundzüge ja, aber je nach Region sind Gesten und Mimik unterschiedlich. „In Hamburg gibt es andere als in München.“Und die Gebärdensprache entwickelt sich – wie ja auch das gesprochene Wort – stetig weiter. „Jüngere Gehörlose haben oft eine knappere Ausdrucksweise, als ältere“, sagt Seuberth. Er ist seit 35 Jahren Dolmetscher. Seine Eltern waren gehörlos und Sohn Stefan ist es auch.
Auch Stefan leidet unter der Corona-Isolation, wobei er nicht jammern möchte. Denn als Mitarbeiter bei Airbus genießt er es, dass das Unternehmen viel für Gehörlose tut. Bei Betriebsversammlungen, Personalgesprächen, Fortbildungen und so weiter ist immer ein Gebärdensprachen-Dolmetscher mit dabei. „Aber mir fehlt das Feiern“, verrät der 50-Jährige.
Rattenbacher, 69, verlor als etwa Zweijährige nach einer Mittelohrentzündung ihr Gehör. Heute kann sie dank zweier Hörgeräte akustisch ein wenig wahrnehmen. Auch für sie ist der Verein ein Stück Heimat. Ein Stück notwendiger Kontakt in eine Außenwelt, in der sich Menschen mit ähnlichen Schicksalen begegnen und verstehen. Ihnen fehlt die menschliche Nähe. „Auch das Umarmen fehlt uns“, sagen sie.
So sehr die Mitglieder des Hörgeschädigten-Vereins Nordschwaben die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie akzeptieren, so sehr haben sie doch einen großen Wunsch: Masken ab! Erst dann können sie wieder am gesellschaftlichen Miteinander teilhaben, so weit es ihre körperlich eingeschränkten Möglichkeiten eben zulassen.