Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (108)
Die eine Hälfte des Geistes schwebt in den Sphären des Anstands und der Humanität, und die andere Hälfte sättigt ihre Bosheit und Gier in den Niederungen der Gesellschaft. Ich kenne einen Kardinal, der nach außen asketisch wie der heilige Franziskus lebt und im Geheimen ein unverbesserlicher Casanova ist. Mein Cousin Carlo ist ein radikaler Kommunist, aber zugleich auch ein Rassist und Antisemit. Früher dachte ich, das sei eine Verkleidung, heute halte ich es für viel schlimmer. Es ist die Spaltung der Seele kluger Menschen.
Notiz 7: Der Bergheilige predigte heute vor seinen versammelten Anhängern: Betet zu Gott nicht aus Angst vor der Strafe oder der Hölle, das tun nur Sklaven und Feiglinge. Betet nicht aus Begier auf das diesseitige oder jenseitige Paradies, das machen Krämer und Händler. Betet, als würdet ihr zu einem geliebten Freund sprechen. Bisweilen dürft ihr ihn auch tadeln, so wie man
einem guten Freund hin und wieder ehrlich die Meinung sagen muss.
Wenn es einen syrischen Heiligen gibt, dann ist es dieser Bergheilige, doch ich werde dem Rat des italienischen Botschafters folgen und dazu keinen offiziellen Kommentar abgeben, bis ich wieder in Rom bin.“
Barudi und Mancini waren in ihre Gedanken vertieft und schraken auf, als es klopfte. Sie liefen hinunter in den ersten Stock. Auf der Treppe hielt Mancini Barudi am Arm zurück. „Das Wichtigste habe ich dir noch nicht vorgelesen“, sagte er.
„Und das ist?“, fragte Barudi und setzte seinen Weg fort.
„Eine Notiz über den Bischof von Damaskus“, antwortete Mancini.
„Was? Auch ein Heiliger?“, lachte Barudi und klopfte an Scharifs Tür.
„Nein, nein, ganz im Gegenteil“, sagte Mancini, aber Barudi war bereits im Zimmer und hörte ihn nicht mehr.
Scharif sprach über seinen Traum von einer vereinten islamischen
Welt. Weder Barudi noch Mancini hörten ihm wirklich zu. Sie nickten nur gelegentlich höflich. Aber als Scharif begann, vom Märtyrertod zu schwärmen, hörte Barudi konzentriert hin.
„Wunderbar, wunderbar“, giftete er gegen Scharifs Schwärmerei vom Paradies, wo Flüsse aus Milch, Honig und sogar Wein fließen und wo jeder Märtyrer bis zu zweiundsiebzig Jungfrauen bekommt. „Entschuldige bitte, aber ihr stellt euch Gott vor wie einen Kuppler, der eure Männer unentwegt mit einem Heer von Frauen versorgt. Andererseits sterben die meisten Männer in deiner Truppe, ohne je einer Frau ein Liebeswort gesagt, geschweige denn sie angefasst zu haben. Wie sollen sie mit zweiundsiebzig Frauen umgehen?“Scharif wurde sichtlich zornig, aber Barudi setzte nach: „Und kannst du mir vielleicht verraten, was eine Märtyrerin im Himmel bekommt? Siebzig Männer?“
Mancinis Herz klopfte vor Angst, deshalb hielt er sich mit Kommentaren zurück. Er hätte allerdings auch gerne gefragt, warum die gläubigen Muslime im Paradies Wein trinken dürfen, auf Erden aber nicht.
Als Scharif sich wieder beruhigt hatte und weiter über das Paradies erzählte, begnügten sich die beiden mit einem dezenten Nicken ab und zu und schalteten auf Durchzug.
Nachdem sie den Tee ausgetrunken hatten, verabschiedete sich Scharif und fuhr wieder zur Front.
Auf der Treppe hielt Mancini Barudi erneut am Arm fest. „Ich habe dir das Wichtigste noch nicht erzählt“, sagte er wieder. „Ein weiterer Eintrag im Notizheft des Kardinals. Sein Urteil über Bischof Tabbich.“
„Über den Bischof? Ach, ja, er hat den Kardinal zweimal, glaube ich, besucht und sich mit ihm gestritten.“
„Ja, genau. Das Seltsame ist, auch der Kardinal sieht in Pfarrer Gabriel, den ich, bevor ich ihm begegnet bin, als Drahtzieher hinter der Heilerin vermutete, ein Opfer. Er bedauert sogar, dass so ein sensibler, intelligenter Mann es mit solchen Halunken zu tun bekam und sich von ihnen missbrauchen lässt. Einzig der Bischof ist nach Meinung des Kardinals ein Krimineller.“
„Ein Krimineller? Bist du sicher, dass er dieses Wort benutzt hat?“
„Ja, er gebraucht es an zwei Stellen, einmal schreibt er criminale und einmal penale, und beides bedeutet Verbrecher.“
„Sagenhaft, an den habe ich nicht einmal fünf Minuten gedacht. Gabriel habe ich für einen Fanatiker gehalten, der wie Scheich Farcha zu allem fähig ist, Pfarrer hin Scheich her. Alis Mitteilung, dass der Bischof
aus Derkas stammt, habe ich keine besondere Bedeutung zugemessen.“
„Wo steht das? In Alis Bericht? Ich kann mich gar nicht erinnern“, wunderte sich Mancini.
„Das steht nirgends. Als ich bei Georg Buri auf die Terrasse ging, habe ich Ali angerufen, um ihm zu sagen, dass bei uns alles in Ordnung ist. Wie nebenbei erwähnte er, dass der Bischof aus Derkas stammt. Mich hat das nicht weiter interessiert.“
„Aber das ist doch überaus wichtig! Vielleicht hat Buri seine Hand ja indirekt im Spiel. Der Bischof wird mir langsam unheimlich.“
Mancini ging nachdenklich hinter Barudi in die Wohnung. Als sie sich an den Tisch setzten, sagte Barudi: „Lass mich bei Georg Buri anrufen. Ich schalte das Telefongerät wieder auf Lautsprecher.“Er wählte die Nummer. „Guten Abend“, sagte er, als Georg Buri sich meldete.
„Störe ich gerade?“, fragte Barudi.
„Nein, überhaupt nicht. Sie haben mich vor einem langweiligen Film gerettet. Ich schalte den Fernseher aus. So. Bitte schön?“
„Ich habe gerade erfahren, dass Bischof Tabbich aus Derkas stammt. Kennen Sie ihn?“
„Oh ja, ich kannte ihn schon, als er noch ein armer junger Mann war.
Er hat damals immer sehr schnell die Nerven verloren, und eines Tages hat er den Verlobten seiner Schwester Theresa erstochen.“
„Erstochen?“, fragte Barudi bestürzt.
„Ja, erstochen. Der Verlobte hatte Theresa geküsst und ihre Beine gestreichelt. Der Bruder hat die beiden aus einem Versteck beobachtet, und dann ging alles ganz schnell. So etwas passiert in diesen ungebildeten Schichten. Sein Vater hat bei mir im Weinberg gearbeitet, er war ein einfacher, gläubiger und treuer Mann. Ich habe einen guten Anwalt eingeschaltet, der die Geschichte als Unfall darstellte. Die Schwester konnte ich überreden, als einzige Zeugin ihren Bruder zu entlasten. Ihr Verlobter würde ja, egal, was sie sagte, nicht wieder lebendig. Sie war knochenhart und verlangte dafür, dass ich ihr die Auswanderung nach Kanada ermöglichte. Das war damals nicht schwer. Sie lebt noch immer dort und ist sehr glücklich. Aber mit ihrem Bruder will sie nach wie vor kein Wort sprechen.
Ich mochte den jungen Tabbich überhaupt nicht und bestand darauf, dass er unser Gebiet verlässt und in ein Kloster geht, um seine Todsünde zu sühnen. Er willigte ein, und von da an hatte ich kein Interesse mehr an einem Kontakt mit ihm.