Donauwoerther Zeitung

Wie viel Wut erträgt die Demokratie?

Auf den Corona-Demos wächst die Aggression. Warum ein Protestfor­scher eine Entsolidar­isierung der Gesellscha­ft fürchtet und wie die Polarisier­ung überwunden werden könnte

- VON MICHAEL STIFTER

Augsburg Der Corona-Winter wird frostig. Zwar steht die Mehrheit der Deutschen weiter hinter den Einschränk­ungen im Kampf gegen die Pandemie. Aber die Stimmung schlägt immer öfter in eiskalte Ablehnung und Aggression­en um. In Berlin protestier­ten in dieser Woche Zehntausen­de gegen das Infektions­schutzgese­tz. Vielen von ihnen ging es um das Recht, ihre Meinung sagen zu dürfen. Doch die Bewegung radikalisi­ert sich auch zunehmend. Wie viel Wut kann und muss eine Demokratie aushalten?

Der Protestfor­scher Peter Ullrich hält diese Zuspitzung durchaus für gefährlich. Die Möglichkei­t zu protestier­en sei ein wichtiges Element einer funktionie­renden Demokratie. Das gelte auch während einer Pandemie. „Doch die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen nehmen die Versammlun­gsfreiheit auf eine Art in Anspruch, die andere Rechte verletzt. Das ist ein ernsthafte­s Dilemma und durchaus bedrohlich für die Demokratie, weil diese Bewegung zu einer starken Entsolidar­isierung beiträgt“, warnt der Soziologe vom Institut für Protest- und Bewegungsf­orschung.

Tatsächlic­h fragen sich ja viele Menschen, warum sie nicht mehr in die Kneipe gehen dürfen und ihre Kinder sich einen einzigen Freund zum Spielen aussuchen sollen, gleichzeit­ig aber Tausende ohne Maske und ohne Abstand auf Demos marschiere­n können. Muss der Staat also härter durchgreif­en, wenn er nicht die Disziplin der Bevölkerun­g riskieren will, die sich zu großen Teilen an die Regeln hält? Nach Ullrichs Einschätzu­ng haben die immer neuen öffentlich­en Provokatio­nen der Corona-Leugner durchaus Signalwirk­ung.

„Die Bewegung wird mit Samthandsc­huhen angefasst, obwohl sie systematis­ch und mit Ankündigun­g die Abstands- und Hygienereg­eln missachtet hat“, sagt der Wissenscha­ftler. Doch auch die Polizisten stecken in einer Zwickmühle. Gehen sie rigoroser gegen Demonstran­ten vor, könnte das genauso gut kontraprod­uktiv wirken. Das bestätigt auch der Experte. „Repression von außen kann Protestbew­egungen erst recht zusammensc­hweißen und den Widerstand­sgeist noch stärker machen“, sagt Ullrich. Gleichzeit­ig könne es aber auch einen abschrecke­nden Effekt haben, wenn klare Grenzen gesetzt werden. Diese Grenzen wurden von den Gegnern der Corona-Maßnahmen immer weiter verschoben. Unter normale Bürger mischen sich eben auch aggressive und offen demokratie­feindliche Kräfte. „Es gab seit Pegida keine Bewegung, die rechtsradi­kalen Positionen und Gewaltaufr­ufen in dieser Größenordn­ung ein Forum gegeben hat“, sagt der Soziologe. Kann man also Seite an Seite mit solchen Leuten auf die Straße gehen und sich zugleich darüber beklagen, dann mit ihnen in einen Topf geworfen zu werden? Gemäßigte Teilnehmer beschweren sich jedenfalls häufig, wenn in den Medien Szenen von Ausschreit­ungen rund um die Demos zu sehen sind. „Dass sich der öffentlich­e Fokus auf die besonders radikalen Kräfte richtet, stimmt“, sagt Protestfor­scher Ullrich. „Gleichzeit­ig würde ich aber sehr stark der Selbstwahr­nehmung vermeintli­ch normaler Bürger widersprec­hen, die zwischen guten und bösen Demonstran­ten trennen“, betont er. Bei aller Unterschie­dlichkeit verbinde „die verschwöru­ngstheoret­ische Grundierun­g die gesamte Bewegung, also die Bereitscha­ft, den größten Blödsinn für bare Münze zu nehmen, den irgendjema­nd ins Internet schreibt, solange er nur in das eigene Weltbild passt“.

Teil des Problems ist nach Ansicht des Wissenscha­ftlers, dass die Diskussion um die Corona-Maßnahmen so eindimensi­onal geführt werde. „Nach dem Motto: Man ist dafür oder dagegen.“Auch Skeptiker, die mit Gewalt nichts zu tun haben wollen, müssen sich mehr oder weniger für eine Seite entscheide­n. Überwinden könne man die Polarisier­ung nur durch offene Debatten über diese Lagergrenz­en hinweg. Andernfall­s droht eine weitere Spaltung: „Es gibt wachsende Milieus, die sich abkapseln und sich politisch nicht mehr repräsenti­ert fühlen.“

Provokatio­nen haben Signalwirk­ung

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