Donauwoerther Zeitung

Sie wollte sich auflösen wie eine Wolke

27 Jahre ist sie alt und die Karrierele­iter schon weit nach oben geklettert. Sie hat einen Partner, Freunde, eine Penthousew­ohnung. Alles scheint perfekt. Dann kommt die Depression, ihr ganzes Leben droht ihr zu entgleiten. Doch nun beginnt die junge Frau

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Noch ein paar Tage. Nicht viel länger. So lange hätte ihr Körper vermutlich noch gekämpft. Auf den Beinen konnte sie sich nur noch schwer halten. Die Farbe ihrer Haut hatte sich bereits verändert. Auch die ihrer Augen. Sie litt kaum mehr zu ertragende Schmerzen. Das viele Wasser in ihren Füßen machte ihr das Laufen fast unmöglich. Doch sie zwang sich. Irgendetwa­s in ihr gab doch noch nicht auf. Irgendetwa­s in ihr ließ sie doch das Haus verlassen und zum Hausarzt gehen. Als man sie dort sah, war klar, dass sie sofort in eine Klinik musste. Ihr Anblick war erschütter­nd. Doch gesehen hatte sie ja schon lange niemand mehr. Corona und der damit verbundene Lockdown machten ein Verstecken einfach. Auch ein Verhungern. 36 Kilo wog sie noch. Die 28-Jährige wäre im Frühjahr beinahe verhungert. Mitten in Augsburg. Weil sie nicht mehr konnte. Weil sie nur noch verschwind­en wollte. Verpuffen. Sich auflösen. „Wie eine Wolke“, sagt sie.

Dabei hatte sie schon so viel erreicht. Vieles, wovon andere in ihrem Alter noch träumen. Sie war nach ihrem Studium sofort beruflich erfolgreic­h durchgesta­rtet. Hatte einen Partner, eine Penthousew­ohnung. Freunde. Sie war immer aktiv, immer fröhlich. Es lief perfekt.

So schien es zumindest. Doch dann beginnt ihr alles zu entgleiten. Es wird ihr alles zu viel. Der Job. Das damit verbundene Pendeln. Die Einrichtun­g der Wohnung. Die Treffen mit Freunden. Alles. In ihrer Not kündigt sie ihre Arbeitsste­lle. Wird auf der neuen aber nicht glücklich. Hat plötzlich viel Zeit. Weiß aber nichts mit ihr anzufangen. Zieht sich zurück. Unzufriede­n mit sich. Sie spürt, dass sie immer kraftloser wird. Freudloser. Als sie es eines Abends nicht einmal mehr schafft, mit ihrem Freund zusammen das neue Bett aufzubauen, kommt es auch da zum Bruch. Von einer Stunde auf die andere sitzt sie allein in der Wohnung – und kann mit Weinen nicht mehr aufhören.

Es beginnt ein einsamer Kampf. Ein Kampf, der ganz im Verborgene­n ausgefocht­en wird. Über ihre Seelenpein spricht sie mit niemandem. Zu sehr habe sie sich geschämt, erzählt sie. Zu stark sei das Gefühl gewesen, versagt zu haben.

Alles falsch gemacht zu haben. Alles verloren zu haben. Nichts mehr zu können. Nichts mehr wert zu sein. Es ist eine zerstöreri­sche Selbstmart­er, die ihr schnell jede Energie raubt. Selbst die zum Essen. Sie lässt es einfach. „Ich sah auch im Essen keinen Sinn mehr“, erinnert sie sich.

So tief traurig sie im Innern war, so fröhlich gab sie sich nach außen: Fragte jemand nach ihr, schminkte sie sich, zog sich hübsch an, strahlte und postete ein Foto von einer glückliche­n jungen Frau. Zu schön war dieses Bild. Auch für sie selbst. Konnte sie sich doch selbst nicht erklären, was mit ihr los war. Das erfuhr sie erst in der Klinik. Im Bezirkskra­nkenhaus Augsburg.

Das Hungern, die Essstörung, hat sie entwickelt, weil sie an einer Depression erkrankt war. An einer sehr schweren Depression. Die Krankheit ließ in ihr den Wunsch wachsen, sterben zu wollen. „Ich könnte mich nie umbringen“, gesteht die junge Frau am Telefon. „Ich habe aber auch keinen Ausweg mehr gesehen.“Sich langsam aufzulösen, erschient ihr, so hart das klingt, als die praktikabe­lste Lösung. „Denn ich wollte nicht mehr leben.“

So wie der heute 28-Jährigen geht es vielen. Ihren Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, weil die Krankheit noch immer stigmatisi­ert. Dabei sind Depression­en eine Volkskrank­heit. Depression­en gehören nach Angaben der Deutschen Depression­shilfe zu den häufigsten und hinsichtli­ch ihrer Schwere am meisten unterschät­zten Erkrankung­en. „Eine Depression ist eine schwere, oft lebensbedr­ohliche und dringend behandlung­sbedürftig­e Erkrankung“, erklärt die Depression­shilfe. Allein in Deutschlan­d seien derzeit 11,3 Prozent der Frauen und 5,1 Prozent der Männer erkrankt. Frauen leiden damit etwa doppelt so häufig an Depression wie Männer. Und für viele geht die Krankheit tödlich aus: Etwa 90 Prozent der Suizide erfolge vor dem Hintergrun­d einer psychiatri­schen Erkrankung – am häufigsten einer unzureiche­nd behandelte­n Depression.

Erkranken kann jeder. In jedem Alter. Häufig sind es Menschen wie die junge Frau aus Augsburg, sagt Professor Alkomiet Hasan. Der Ärztliche Direktor des Bezirkskra­nkenhauses Augsburg und sein Team behandeln oft junge Erwachsene, die noch im Studium sind, in der Ausbildung, am Beginn ihres Berufslebe­ns. Die eigene Erwartungs­haltung ist in dieser Zeit oft besonders hoch. Man will alles schaffen. So schnell wie möglich. Schließlic­h

wir in einer Leistungsg­esellschaf­t. Und es seien oft gerade die Leistungss­tarken, die erkranken. Sie vergleiche­n sich mit anderen. Geben Gas. „Wer allerdings die Veranlagun­g zu Depression­en hat, läuft dann Gefahr, schnell die ersten Anzeichen einer Erkrankung zu übersehen“, weiß Hasan. Viele arbeiteten und arbeiteten, kommen gar nicht mehr zur Ruhe, können nicht mehr schlafen, sind extrem gereizt – „das kann über Monate gehen, über Jahre“. Eine Depression entstehe nicht von einem Tag auf den anderen. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem Sportler“, erklärt der Psychiater: „Er merkt eigentlich schon, dass es zwickt im Knie, in der Hüfte, aber er rennt weiter.“Bis der Zusammenbr­uch kommt, der Sturz in ein tiefes Loch.

Erkranken können schon Kinder. Bei Kindern im Vorschulal­ter liege die Häufigkeit bei etwa einem Prozent. Im Grundschul­alter seien weniger als zwei Prozent betroffen, bei Jugendlich­en zwischen zwölf und 17 Jahren drei bis zehn Prozent – im Schnitt zwei Schüler je Klasse, hat Depression­shilfe errechnet. Doch leicht zu erkennen ist die Erkrankung nicht immer. Schon gar nicht bei Kindern, Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n. „Bei jungen Erwachsene­n beobachten wir ganz oft, dass weitere Erkrankung­en zu der Depression noch dazukommen“, erklärt Hasan. Essstörung­en etwa, Borderline-Störungen oder Abhängigke­iten von Suchtmitte­ln wie Alkohol oder Cannabis.

Auch bei Kindern sind es meist nicht allein die für Erwachsene oft üblichen Anhaltspun­kte wie etwa eine lang anhaltende tief gedrückte Stimmung, Interessen- und Antriebslo­sigkeit, die auf eine Depression­serkrankun­g hinweisen können, erklärt die Kinder- und Jugendpsyc­hotherapeu­tin Julia Ebhardt von der Deutschen Depression­shilfe. Nicht selten ist ihr zufolge eine gereizte Stimmung bei den sehr jungen Patienten zu beobachten. „Auch hinter vermehrtem Computersp­ielen beispielsw­eise, einer plötzliche­n Verschlech­terung der Noten kann eine Depression stecken.“Eltern rät sie, generell auf Verhaltens­änderunleb­en gen zu achten und das Kind darauf anzusprech­en. Nicht vergessen dürfe man, dass Depression­en oft vererbt werden. „Meistens liegt eine gewisse Veranlagun­g in der Familie vor“, sagt Ebhardt. Äußere Faktoren wie eine Trennung der Eltern, der Tod eines Angehörige­n, der Wegzug eines Freundes könnten dann die Krankheit auslösen. Manchmal reichten kleine Veränderun­gen. „Oft findet man aber auch keinen konkreten Auslöser.“

Positiv beurteilt Ebhardt, dass die Zahl der Behandlung­en von Depression­en steigt. Denn daraus kann man ihres Erachtens nicht eine generelle Zunahme der Erkrankung ableiten. „Wir gehen vielmehr davon aus, dass die Krankheit öfter und früher erkannt und dann auch behandelt wird.“Es sei aber auch festgestel­lt worden: Je früher die Krankheit auftritt, desto größer ist die Wahrschein­lichkeit, dass sie immer wieder kommt. „Depression­en sind aber sehr gut behandelba­r“, betont die Expertin. Und eine Behandlung ist das A & O. „Denn die Erkrankung ist schwer auszuhaldi­e ten“, erklärt die Therapeuti­n. Das Selbstbild der Betroffene­n sei in der Regel so schlecht, dass die Patienten – egal in welchem Alter – oft nur noch ein Schatten ihrer selbst sind.

So war es auch bei der jungen Augsburger­in. Wer ihr am Telefon zuhört, kann nicht glauben, dass diese so freundlich­e, so offen und lebhaft erzählende Frau ihren Tod herbeigese­hnt hat. Noch immer befindet sie sich in Behandlung. Dabei fiel ihr der Schritt dazu wie vielen Betroffene­n unendlich schwer. Das Eingeständ­nis, profession­elle Hilfe zu brauchen und auch anzunehmen, ist nicht selten ein langer, ein steiniger Weg. Auch für die Angehörige­n.

Sowohl ihre Schwester als auch ihre Mutter hatten früh den Verdacht, dass sie an einer Depression erkrankt sein könnte, erzählt die 28-Jährige. „Doch ich war überzeugt davon, dass mir niemand helfen kann, weil ich doch selbst an allem schuld war. Dass ich schwer krank sein könnte, daran habe ich gar nicht gedacht.“Vielmehr habe sie versucht, alles zu vertuschen. „Denn vor allem wollte ich niemandem zur Last fallen.“Schließlic­h hat sie früh gelernt, selbststän­dig zu sein. „Ich war immer die Starke“, erzählt sie. „Das Vorzeigeki­nd. Ich habe immer alles organisier­t. Plötzlich die Schwache zu sein, die Kranke, diejenige, die Hilfe braucht, das war für mich ganz, ganz schlimm.“Nur mit erhebliche­m Widerstand lässt sie sich von ihrer Schwester in die Notaufnahm­e fahren.

Angehörige­n von Depression­spatienten wird oft viel Geduld abverlangt. „Doch sie spielen eine ganz wichtige Rolle“, betont Psychiater Hasan und ergänzt: „Angehörige sollten die Betroffene­n vor allem motivieren, sich helfen zu lassen. Ihnen anbieten, Sie zu begleiten.“Leicht ist das aber oft nicht. Zumal die Angehörige­n sich oft selbst mit Schuldgefü­hlen herumplage­n und nicht selten überforder­t sind. Die Experten der Depression­shilfe raten Angehörige­n, sich nicht nur einen ärztlichen Rat zu holen. Auch eine Selbsthilf­egruppe entlastet viele. Vor allem aber ist es wichtig, sich über die Krankheit zu informiere­n. Denn wer an einer Depression erkrankt ist, kann in der Regel mit gut gemeinten Ratschläge­n nichts anfangen, warnt die Depression­shilfe. Im Gegenteil. Oft verstärken Aufforderu­ngen wie „Mensch, steh

Selbst im Essen sah sie keinen Sinn mehr

Angehörige plagen sich oft mit Schuldvorw­ürfen

doch mal auf“, „reiß dich doch mal zusammen“, „geh doch mal raus“die ohnehin schon quälenden Schuldgefü­hle des Erkrankten noch. Was am ehesten helfe, sei die Versicheru­ng, dass einem der andere am Herzen liegt, man gerne für ihn da ist. Professor Hasan und sein Kollege Jannis Apostolopo­ulos, die behandelnd­en Ärzte der Augsburger­in, wissen, wie viele Gespräche nötig sind, bis Betroffene sich helfen lassen. Die junge Frau konnten sie überzeugen.

Beendet ist deren Kampf gegen die tückische Krankheit allerdings noch nicht. Noch immer ist die 28-Jährige nicht ausreichen­d stabilisie­rt. Noch immer muss sie vor allem an ihrem Selbstwert­gefühl arbeiten. „Ich weiß jetzt aber, dass der Job nicht alles ist, dass ich nicht nichts mehr wert bin, nur, weil ich die Arbeit nicht schaffe, dass ich lernen muss, Nein zu sagen“, berichtet sie. Und sie weiß, dass sie sehr vieles hat, worauf sie aufbauen kann. „Es gibt vieles, wofür ich heute dankbar bin.“Doch sie weiß auch, dass die Depression wiederkomm­en kann. Dass sie gut auf sich aufpassen muss. „Ich sehe das jetzt wie eine Lampe“, sagt sie. „Auf ihr Licht muss ich achten.“Wird es immer greller, schmerzhaf­ter, ist höchste Vorsicht geboten. Im Frühjahr wusste sie das aber alles noch nicht. Ihre innere Lampe gab längst Signale in schrillste­n Farben ab. Beinahe wäre sie ganz erloschen. Es fehlten nur Tage.

 ?? Symbolfoto: Sina Schuldt, dpa ?? Verlassen, von Schuld‰ und Schamgefüh­len zermartert – wer an einer schweren Depression erkrankt, verliert nicht selten sogar seinen Lebenswill­en. Depression­en werden oft unterschät­zt, auch von den Betroffene­n selbst.
Symbolfoto: Sina Schuldt, dpa Verlassen, von Schuld‰ und Schamgefüh­len zermartert – wer an einer schweren Depression erkrankt, verliert nicht selten sogar seinen Lebenswill­en. Depression­en werden oft unterschät­zt, auch von den Betroffene­n selbst.

Newspapers in German

Newspapers from Germany