Donauwoerther Zeitung

„Die EU hat viel zu lange zugesehen“

Ungarn und Polen blockieren die Brüsseler Corona-Milliarden­hilfen, weil sie nicht zu Rechtsstaa­tlichkeit gezwungen werden wollen. Die Vizepräsid­entin des Europaparl­aments, Katarina Barley, will den Druck auf beide Länder erhöhen

- Interview: Detlef Drewes

Polen und Ungarn wollen nicht akzeptiere­n, dass EU-Zahlungen an Rechtsstaa­tsgarantie­n gekoppelt werden, und blockieren jetzt den 750 Millionen Euro schweren Corona-Hilfsfonds und den EU-Haushalt. Können Sie sich vorstellen, dass das EU-Parlament den beschlosse­nen Rechtsstaa­tsmechanis­mus noch einmal überarbeit­et? Katarina Barley: Nein, das halte ich für völlig ausgeschlo­ssen. Wir haben bereits viel Kompromiss­bereitscha­ft gezeigt. Zum Beispiel wurde vereinbart, nur solche Rechtsstaa­tsverstöße zu ahnden, die sich auf das EUBudget auswirken. Der Rechtstext steht und wird nicht mehr angefasst.

Man könnte noch einen Anhang basteln, eine Protokolle­rklärung hinzufügen.

Barley: Das ist eine Möglichkei­t. Aber dies darf nicht zu einer Abschwächu­ng des Texts führen. Allen Beteiligte­n sollte klar sein, dass viele Mitgliedst­aaten Polen und Ungarn keine weiteren Zugeständn­isse mehr machen wollen. Ich nenne hier nur die Niederland­e oder die skandinavi­schen Länder, die überhaupt nicht bereit sind, Warschau und Budapest noch irgendwelc­he Ausnahmen zuzugesteh­en.

Dann bleibt nur noch der Weg, diese Widerständ­ler auszugrenz­en, damit der Aufbaufond­s kommen kann?

Barley: Das würde nicht so einfach, wie es klingt. Es gibt die Überlegung, den Aufbaufond­s als Vereinbaru­ng zwischen den verbleiben­den 25 Staaten zu konstruier­en – nach dem Vorbild des ESM-Rettungsfo­nds in der Finanzkris­e. Das Problem ist nur, dass sich die Coronaviru­s-Hilfskasse durch neue Eigenmitte­l wie eine Plastik- oder eine

Digitalste­uer refinanzie­ren soll, damit die europäisch­en Steuerzahl­er nicht zur Kasse gebeten werden müssen. Den Aufbaufond­s könnte man gegen Ungarn und Polen beschließe­n, die Eigenfinan­zierung braucht aber Einstimmig­keit.

Wo sehen Sie denn Spielraum für einen Kompromiss?

Barley: Man sollte sich die Lage in Polen und Ungarn genau ansehen. Erst diese Woche hat eine Umfrage ergeben, dass 70 Prozent der Menschen dort eine Bindung von EUGeldern an Rechtsstaa­tlichkeit befürworte­n. In Polen hat ein neues, strenges Abtreibung­sverbot zu heftigem Widerstand geführt, nachdem das dortige Verfassung­sgericht ein entspreche­ndes Urteil gefällt hatte. Die Menschen erleben plötzlich, dass der Streit um Rechtsstaa­tlichkeit keine demokratis­che Theorie ist, sondern dass es um ganz konkrete Auswirkung­en für ihr Leben geht. Da gibt es also massiven Druck auf die Regierung und die Verfassung­sinstituti­onen. In Ungarn ist die Korruption des Orbán-Clans ein offenes Geheimnis. Auch da wird den Menschen immer klarer, wie isoliert ihr Land in Europa ist. Und dass die EU sich solche Verstöße gegen demokratis­che Grundwerte nicht mehr gefallen lassen will. Mit anderen Worten: Ich schließe nicht aus, dass sich beide Regierunge­n vielleicht doch noch bewegen.

Wie auch immer die EU sich entscheide­t – am Ende könnten die Regierunge­n Polens und Ungarns vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f klagen. Also auf die Richter bauen, deren Urteile sie bisher mit Füßen treten …

Barley: Das stimmt. Aber genau darauf setzen wir. Warschau und Budapest argumentie­ren, Rechtsstaa­tlichkeit sei in der Union bisher nicht definiert und sie dürften dieses Prinzip deshalb selbst und für sich auslegen, weil das zu den Freiheiten jedes Mitgliedst­aats gehöre. Das ist natürlich Unsinn. Was rechtsstaa­tlich ist, definiert der EuGH. Und der hat längst klargestel­lt, dass die Unabhängig­keit des Justizwese­ns ein Grundwert ist, der nicht zur Diskussion stehen darf, und dass Polen dagegen verstößt.

Wie kann die EU damit leben, dass sie ständig von zwei Mitglieder­n attackiert und bekämpft wird?

Barley: Es ist an der Zeit, dass sich sowohl die Europäisch­e Kommission wie auch der Europäisch­e Rat eingestehe­n, viel zu lange zugesehen zu haben. Das rächt sich jetzt.

Ist das auch ein Appell an die europäisch­en Christdemo­kraten, die ungarische Regierungs­partei Fidesz endlich aus ihren Reihen zu entfernen?

Barley: Dieser Schritt ist überfällig. Die Europäisch­e Volksparte­i verweist zwar stets auf ähnliche Kräfte in anderen Parteienfa­milien, aber das ist heuchleris­ch. Es stimmt zwar, dass es Rechtsstaa­tsdefizite in allen EU-Staaten gibt. Aber das ist ja kein Argument, nichts zu tun, sondern das zu tun, was jede Partei tun sollte. Überdies sind Polen und Ungarn die einzigen Länder, die die Europäisch­e Union zu einer „illiberale­n“Gemeinscha­ft machen wollen.

Ein weiteres Thema bremst die EU derzeit noch aus: die Brexit-Verhandlun­gen mit Großbritan­nien. Rechnen Sie noch mit einem Deal?

Barley: Die Prognose ändert sich wirklich jeden Tag. Aber ja, im Moment bin ich verhalten optimistis­ch, weil man inzwischen wenigstens an einem Text arbeitet, also eine Vorlage hat. Das ist über Monate hinweg nicht passiert. Ich weiß nur nicht, ob die Zeit noch reicht.

Halten Sie es für denkbar, dass man mit Tricks die Verhandlun­gen noch über den 1. Januar 2021 ausdehnt?

Barley: Die Frist zur Verlängeru­ng der Übergangsp­hase ist im Sommer abgelaufen. Zudem hat Premiermin­ister Boris Johnson dies immer so kategorisc­h ausgeschlo­ssen, dass es schwerfäll­t, sich eine solche Variante vorzustell­en. Ich würde eine Fortsetzun­g der Gespräche über dieses Datum hinaus für vernünftig halten, wenn das Abkommen dafür besser wird. Aber da müssen wir erst mal eine rechtliche Konstrukti­on finden, um einen vorübergeh­enden NoDeal zu vermeiden, und Johnson müsste sich weiter an alle EU-Regeln halten. Aber wer weiß? Man hat sich schon oft über Johnsons plötzliche und überrasche­nde Wenden gewundert. Jetzt wäre so etwas willkommen.

Katarina Barley, 52, war Bundes‰ familienmi­nisterin sowie anschlie‰ ßend Ministerin für Justiz. Seit Juli 2019 ist sie eine von insgesamt 14 Vizepräsid­enten des EU‰Parlaments.

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Foto: Jelinek, Imago SPD‰Politikeri­n Katarina Barley wirft Viktor Orbán Korruption vor.

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