Retter der Kirchenmusik
Im Augsburger Dom gab es ein 24-Stunden-Programm mit nur einem Komponisten
„Bis orat, qui cantat“(Wer singt, betet doppelt) ist ein berühmtes Zitat des heiligen Augustinus und ein Loblied auf die Musik. In Zeiten der Pandemie angewendet kann es wiederum zum Segen werden. Vereinzelt haben Kirchen sich den Spruch bereits zu Herzen genommen und verbinden Livemusik mit Gebet und Gottesdienst, andere folgen hoffentlich noch.
Im Augsburger Dom wurde Augustinus’ Ausspruch am Wochenende zu einer 24-stündigen musikalischen Andacht ausgeweitet, einem Mammutprojekt namens „Palestrina – A Global Prayer for the People“mit illustren Künstlern als Beteiligten und zu Ehren des Komponisten Palestrina, der als Retter der mehrstimmigen Kirchenmusik gilt. Initiator des Palestrina-Projekts ist der Tenor Thomas E. Bauer, umgesetzt hat es neben ihm auch Domkapellmeister Stefan Steinemann, der von seinem „Chef“, dem Augsburger Bischof Bertram Meier, unterstützt wurde. „Die Pandemie und ihre Ursachen mahnen uns, sowohl die Welt mehr zu heiligen als auch das Heilige in die Welt zu tragen“, sagte Meier.
In rund einstündigen Blöcken und „in fliegendem Wechsel“traten im Augsburger Dom A-cappellaFormationen von internationalem Format mit Musik von Palestrina auf: Singer Pur, AElbgut, der Chor der KlangVerwaltung, Vodeon, InVocare, die Vokalsolisten Konzerthaus Blaibach, die Schola der Erzabtei St. Ottilien, Quintessenz, Aux Antiqua und die Augsburger Domsingknaben. Dazwischen gab es instrumentale Intermezzi mit den Organisten Stefan Steinemann (auch
Sologesang), Umberto Kostanic, Olga Watts (Orgel und Cembalo), mit Sigiswald Kuijken (Violine und Gambe), Marleen Thiers (Viola), Jedediah Allen (Zink) – hochkarätige Künstler, die sich hier im Dom der Fuggerstadt sozusagen die Klinke in die Hand gaben. Viele von ihnen haben eine Knabenchor-Vergangenheit, erzählt Stefan Steinemann, der selbst die Augsburger Domsingknaben leitet. So ist ihnen die Tonsprache Palestrinas seit
Kindheit vertraut.
Die Intention der 24-stündigen musikalischen Andacht, des doppelten Gebets durch Musik, wurde mehr als erreicht. Wie eine Gloriole manifestierte sich Palestrinas Musik im Raum, ruhig fließend, dicht und komplex, aber doch transparent füllte sie den Augsburger Mariendom mit ihren Klängen, zeitlos schön, eine stehende Welle aus Wort und Ton, die Kraft, Trost und Zuversicht spendete. Nur wenige Zuhörer waren im Dom zugelassen. Daher wurde das Konzert live gestreamt, in hervorragender Qualität, und hier lief die Musik auch während der Morgengottesdienste weiter: Es wurden Aufnahmen eingeblendet, die am Vortag eingespielt worden waren. Die besondere Atmosphäre, die eindrückliche Intensität des unbegleiteten Gesanges und der Instrumentalmusik, die Schönheit der Kompositionen überstanden auch den virtuellen Transport, obgleich das Live-Erlebnis unübertroffen blieb. Dieses 24-stündige Klanggebet im Augsburger Dom war ein außergewöhnliches Ereignis, sicher auch ein Kraftakt, der aber die kraftspendende Wirkung von Musik – und Kunst überhaupt – verdeutlichte. Ein Projekt mit Signalwirkung.