Klima der Angst
Eine Mordserie an Journalisten und anderen Berufsgruppen erschüttert Afghanistan
Kabul Ein halbes Dutzend Handys liegt auf dem Schreibtisch von Bilal Sarwari. Ständig klingelt eins der vielen Telefone. Kaum ein Journalist ist so gut vernetzt in Afghanistan. Das macht auch ihn zum Ziel von Feinden der Pressefreiheit. „In Kabul ist man heutzutage nirgendwo mehr sicher“, erzählt Sarwari in seinem neu eingerichteten Büro. „Ich kann mir keinen Ort vorstellen, wo man tagsüber oder nachts hingehen und seine Arbeit machen kann.“Eine Serie gezielter Morde erschüttert das Land und die Hauptstadt Kabul. Betroffen sind Journalisten, Menschenrechtler, Frauen in öffentlichen Ämtern und Anhänger der Regierung.
Die Täter bleiben im Verborgenen, kaum ein Verbrechen wird aufgeklärt. Verdächtigt werden die islamistischen Taliban und Kriminelle. Aber auch die Regierung selbst wurde schon beschuldigt, Kritiker beseitigen zu wollen. Es herrsche ein „Klima der Angst“, erklärt der 37-Jährige. „Diese Morde und Attentate bringen den Afghanen eine moralische und psychologische Niederlage bei“, sagt Sarwari. „Wir waren mal eine sehr widerstandsfähige Nation. Wir waren zäh, wir waren hart. Aber heute, habe ich das Gefühl, sind wir so gleichgültig geworden.“Dass die Attentäter oft erfolgreich seien, zeige ein massives Versagen der Sicherheitskräfte und Geheimdienste, meint Sarwari. Doch der erfahrene Journalist will bleiben. Während Sarwari an einem unbekannten Ort der Hauptstadt ausharrt, haben bereits viele Reporter das Land verlassen. 17 afghanische Journalistinnen und Journalisten seien in den vergangenen Monaten gegangen, berichtet die lokale Medienorganisation
Elf Medienschaffende wurden 2020 ermordet, viele eingeschüchtert. In emotionalen Videostatements melden sich Journalisten aus dem Exil und werfen der Regierung Versagen vor. Wer bleibt, ist sich der Gefahren bewusst. Anisa Schahid ist eine von ihnen. Die bekannte TV-Journalistin wurde für ihre Berichte aus Afghanistan von der Organisation Reporter ohne Grenzen ausgezeichnet. „Die Regierung hat nichts für Journalisten getan“, beklagt die 34-Jährige. „Vielleicht werde ich getötet“, sagt die Journalistin. Aber weil ihr die Leute vertrauen, will sie weiterarbeiten, trotz der Hinweise auf mögliche Mordanschläge. „Journalisten verstehen, dass es eine sehr ernste Bedrohung für sie gibt, aber sie kommen und arbeiten“, sagt Schahid. Wie auch andere Frauen in Afghanistan fürchtet Schahid, dass viele Freiheiten bei den Friedensverhandlungen mit den Taliban verloren gehen. Zwar dementierten die Taliban eine Beteiligung an den Journalistenmorden, doch Experten machen die Gruppe oft dafür verantwortlich.
Nai.