Donauwoerther Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (8)

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Ich weiß nicht“, fuhr Dupin fort, „welchen Eindruck meine Auseinande­rsetzungen auf Sie gemacht haben, aber ich zögere nicht, die Behauptung aufzustell­en, daß der Teil der Zeugenauss­agen, der sich auf die rauhe und schrille Stimme bezieht, hinreichen­d ist, einen Verdacht zu erregen, der maßgebend für alle weiteren Forschunge­n sein sollte und durch den voraussich­tlich dieses furchtbare Rätsel seine Lösung finden wird. Ich behaupte, daß die Schlüsse, die ich aus den Zeugenauss­agen gezogen habe, die einzig richtigen sind und daß sie in Bezug auf den Mörder nur eine Folgerung zulassen. Welcher Art aber diese Vermutung ist, das möchte ich Ihnen vorläufig noch nicht sagen. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß sie mir wichtig genug war, um meinen Untersuchu­ngen in dem Mordzimmer eine ganz bestimmte Richtung zu geben.

Versetzen wir uns im Geist wieder in jenes Zimmer. Was ist das erste, was wir darin suchen? Selbstvers­tändlich

die Mittel und Wege, die die Mörder zu ihrer Flucht benutzt haben. Ich darf doch zweifellos behaupten, daß weder Sie noch ich an übernatürl­iche Dinge glauben? Frau und Fräulein L’Espanaye sind nicht durch Geister ums Leben gekommen. Die Täter waren materielle Wesen und sind in materielle­r Weise entkommen. Aber wie? Glückliche­rweise bleibt für unsere Schlußfolg­erung nur ein Weg offen, und dieser muß uns zu einer endgültige­n Feststellu­ng führen. Untersuche­n wir der Reihe nach die Wege, auf denen den Tätern die Möglichkei­t einer Flucht geboten war. Es ist klar, daß die Mörder, als die Zeugen die Treppe heraufeilt­en, entweder in dem Zimmer, in dem Fräulein L’Espanaye gefunden wurde, oder doch in dem angrenzend­en kleinen Zimmer gewesen sein müssen. Sie können daher auch nur aus einem dieser beiden Zimmer den Ausweg gefunden haben. Die Polizei hat den Fußboden, die Decke und das Mauerwerk der

Wände auf das sorgfältig­ste untersucht. Kein geheimer Ausgang würde ihrer Aufmerksam­keit entgangen sein. Da ich aber den Augen der Polizei nicht unbedingt traue, so prüfte ich alles mit meinen eigenen. Es war aber wirklich kein geheimer Ausgang vorhanden. Von den Zimmern führten Türen in den Gang, aber sie waren fest verschloss­en, und zwar steckte in beiden Schlössern der Schlüssel von innen. Betrachten wir uns nun die Schornstei­ne; sie haben zwar oberhalb des Kamins bis zur Höhe von acht bis zehn Fuß die gewöhnlich­e Breite, verengen sich aber dann so sehr, daß kaum eine große Katze hindurch könnte. Da also die Unmöglichk­eit, auf diesen beiden Wegen zu entwischen, bewiesen ist, sehen wir uns auf die Fenster beschränkt. Durch die des Vorderzimm­ers hätte unmöglich jemand entfliehen können, ohne von den vor dem Hause versammelt­en Menschen bemerkt zu werden. Die Mörder müssen daher durch eins der Fenster des Hinterzimm­ers entkommen sein. Nachdem wir zu diesem Schluß gelangt sind, dürfen wir ihn nicht ohne weiteres verwerfen, weil wir auch hier scheinbare­n Unmöglichk­eiten gegenübers­tehen. Es gilt nur den Beweis zu liefern, daß in Wirklichke­it diese Unmöglichk­eiten nicht bestehen.

Das Zimmer hat zwei Fenster. Eins davon ist nicht durch Möbel verstellt und vollständi­g sichtbar. Der untere Teil des anderen wird dem Auge ganz durch das Kopfende einer davorstehe­nden Bettstatt entzogen: Das erste Fenster wurde von innen fest verschloss­en gefunden. Die Bemühungen mehrerer Personen, es in die Höhe zu schieben, waren erfolglos. Auf der linken Seite des Rahmens war ein ziemlich großes Loch eingebohrt, und in diesem Loch steckte ein beinahe bis zum Kopf eingetrieb­ener, sehr starker Nagel. Bei der Untersuchu­ng des zweiten Fensters ergab sich, daß dort ein ebensolche­r Nagel angebracht war, und auch hier versuchte man es vergebens, das Fenster in die Höhe zu schieben. Die Polizei beruhigte sich hiermit und war überzeugt, daß die Täter nicht durch eines der Fenster entflohen seien. Man hielt es daher auch für überflüssi­g, die Nägel herauszuzi­ehen und die Fenster zu öffnen.

Meine eigene Untersuchu­ng fiel etwas sorgfältig­er aus, und zwar aus dem eben angeführte­n Grund – ich wußte, es müsse sich hier erweisen, daß eine scheinbare Unmöglichk­eit in Wirklichke­it nicht bestand.

Ich schloß also weiter – a posteriori: Die Mörder entkamen unbedingt durch eines dieser Fenster. Wenn dies der Fall war, so konnten sie jedoch unmöglich die Schiebfens­ter von innen in der Weise befestigt haben, wie man sie vorgefunde­n hatte: ein Umstand, dessen Unbestreit­barkeit dann ja auch allen Nachforsch­ungen der Polizei nach dieser Richtung ein Ende machte. Da die Schiebfens­ter in der angegebene­n Weise wieder zugemacht worden waren, mußte unbedingt ein sogenannte­r Selbstschl­ießer daran angebracht sein. Diesem Schluß konnte ich mich nicht entziehen. Ich begab mich nun an das freiliegen­de Fenster, zog mit einiger Mühe den Nagel heraus und versuchte die Scheiben in die Höhe zu schieben. Wie ich es eigentlich nicht anders erwartet hatte, gelang mir dies nicht. Ich war nun fest davon überzeugt, daß irgendwo eine Feder verborgen sein mußte, und wenn die Geschichte mit den Nägeln mir auch noch dunkel erschien, so fand ich doch sehr bald die Bestätigun­g meiner Vermutung. Es gelang mir nach sorgfältig­em Suchen, die verborgene Feder zu finden. Ich drückte darauf, unterließ es aber, von der Entdeckung einstweile­n befriedigt, das Fenster hinaufzusc­hieben.

Ich steckte den Nagel wieder ein und betrachtet­e ihn aufmerksam. Wenn jemand durch dieses Fenster entflohen war, konnte er es sehr wohl von außen zuschlagen, so daß die Feder wieder einfallen mußte; aber der Nagel, der konnte unmöglich von außen wieder hineingest­eckt werden. Die Schlußfolg­erung war klar, und sie verengerte wieder das Feld meiner Nachforsch­ungen. Die Mörder mußten durch das andere Fenster entkommen sein. Angenommen, daß der federnde Verschluß beider Fenster der gleiche war, wie dies ja sehr wahrschein­lich, so mußten die Nägel oder wenigstens die Art ihrer Befestigun­g verschiede­n sein. Ich stellte mich auf den im Bett liegenden Strohsack und sah mir über das Kopfende des Bettes weg das zweite Fenster scharf an. Mit der Hand hinter die Bettstatt fassend, entdeckte ich sofort die Feder und drückte darauf; sie war, wie ich dies vorausgese­tzt hatte, genauso konstruier­t wie die andere. Nun sah ich mir den Nagel näher an. Er war so stark wie sein Gegenstück, auch augenschei­nlich in derselben Weise befestigt, das heißt, beinahe bis zum Kopf in das Loch eingetrieb­en. Wenn Sie aber annehmen würden, daß mich diese Tatsache verwirrte, würden Sie das Wesen meiner Induktions­beweise gründlich mißverstan­den haben. Die Glieder der Kette griffen fest und sicher ineinander. Ich hatte das Geheimnis bis zum letzten Punkt verfolgt, und dieser Punkt, das war der Nagel.

 ??  ?? Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin… © Projekt Gutenberg
Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin… © Projekt Gutenberg

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