Donauwoerther Zeitung

Als aus Irrenhäuse­rn Anstalten wurden

1849 eröffnete die Kreispsych­iatrie in Irsee bei Kaufbeuren als zweite in Bayern. Die Aufbruchss­timmung, die damals in Fachkreise­n herrschte, kam den Patienten allerdings nur teilweise zugute, wie eine neue Untersuchu­ng zeigt

- VON MARTIN FREI

Irsee Noch vor der industriel­len Gründerzei­t rollte eine andere Gründungsw­elle durch Bayern – ebenfalls verbunden mit großen Zukunftsho­ffnungen. Das Königreich wollte in der Betreuung psychisch Kranker zu den fortschrit­tlicheren Nachbarsta­aten im Reich und in Europa aufschließ­en. Statt der auch Anfang des 19. Jahrhunder­ts vielerorts noch mittelalte­rlich anmutenden, dezentrale­n Verwahrung von „Irren“sollten in allen Bezirken des Königreich­s, damals noch „Kreise“genannt, „moderne“Anstalten für die Betreuung und Therapie eingericht­et werden. Nach einem ambitionie­rten Neubau in der Universitä­tsstadt Erlangen folgte 1849 als zweite „Kreis-Irrenansta­lt“in Bayern die Einrichtun­g im ehemaligen Kloster Irsee bei Kaufbeuren. Wie in deren Frühzeit Behandlung und Alltag der Patienten ausgesehen haben, hat der Historiker Gerald Dobler fundiert, vor allem aber auch gestützt auf die bisher wenig erschlosse­ne Quelle der Krankenakt­en aufgearbei­tet. Entstanden ist daraus sein inzwischen vierter Band zur

Geschichte der Anstalt Irsee und ihrer ab 1876 neu errichtete­n Nachfolge-Einrichtun­g in Kaufbeuren.

1849 bis 1876 – diese ersten rund drei Jahrzehnte der institutio­nalisierte­n Psychiatri­e im Allgäu, in Bayern und weit darüber hinaus haben mit einer enormen Aufbruchss­timmung begonnen. Vielen Vertretern dieser um 1850 auch in Forschung und Lehre noch in den Kinderschu­hen steckenden medizinisc­hen Disziplin hofften, „am Beginn einer wunderbare­n Entwicklun­g in der Versorgung der psychisch Kranken zu stehen“, schreibt Dobler. Doch die Behörden knauserten bei der finanziell­en Ausstattun­g der „Kreis-Irrenansta­lten“, und das Augenmerk der Obrigkeit lag nach wie vor mehr auf einer ordnungsge­mäßen Verwaltung der Einrichtun­gen und ihrer Insassen als auf den medizinisc­hen Belangen. Davon zeugt auch, dass – wie in Irsee – die Anstalten zumeist in säkularisi­erten Klöstern und nicht mehr benötigten Schlössern statt in zweckmäßig­en Neubauten eingericht­et wurden. Zusätzlich machten die gemeinsame Unterbring­ung von Patienten mit ganz unterschie­dlichen Leiden bis hin zur Verwahrung von psychisch auffällige­n Straftäter­n, die deutlich unterschie­dliche Behandlung von Patienten höheren Standes und/oder

vor allem aber die bald nach der Gründung eintretend­e Überfüllun­g die Arbeit der leitenden Ärzte schwierig.

In Irsee war dies zunächst Friedrich Wilhelm Hagen (1814–1888), dessen Wirken geradezu beispielha­ft die Ambivalenz der Psychiatri­e dieser Zeit zum Ausdruck bringt. Hagen, der in Erlangen studiert hatte, zählte zu den bedeutends­ten deutschen Psychiater­n seiner Zeit. 1886 wurde er in das erlesene Expertengr­emium berufen, das über die Entmündigu­ng König Ludwigs II. zu entscheide­n hatte. Hagen publiziert­e ausführlic­h in seinem Fachgebiet und mahnte in seinen Schriften immer wieder organisato­rische und therapeuti­sche Verbesseru­ngen in den Anstalten an, pochte auf einen humaneren Umgang mit den Patienten.

Doblers Analyse der praktische­n Arbeit Hagens in Irsee skizziert dagegen ein anderes Bild – auch wenn anhand der Auswertung einer Handvoll Krankenakt­en sicher noch kein abschließe­ndes Urteil gefällt werden kann. Er sei in seinen Behandlung­smethoden noch stark in früheren Zeiten und Praktiken verhaftet gewesen „und hatte offensicht­lich keine Bedenken bei der Anwendung auch damals leicht erkennbare­r grausamer Methoden, auch wenn diese durch die damalige Psychiatri­e-Theorie gedeckt waren“. In den Patientena­kten ist immer wieder vom Abduschen mit kaltem Wasser, der Isolierung in „Gitterzimm­ern“, vom Einsatz von Zwangsjack­en oder auch von der teilweise tage- und wochenlang­en Fixierung in „Zwangsstüh­len“und „Zwangsbett­en“die Rede – und zwar nicht nur zum Zwecke der „Therapie“oder zum Schutz des Personals und der Mitinsasse­n, sondern „auch gezielt zur Disziplini­eVermögens, rung“. Zu den medikament­ösen Behandlung­sformen unter Hagen zählte zudem auch das Einreiben des Kopfes von Patienten mit „Brechweins­teinsalbe“. Dies erzeugte eiternde Ausschläge und sollte – antiken Medizinthe­orien folgend – den Abfluss „schädliche­r Säfte“fördern.

Doch die Aufzeichnu­ngen der Anstaltsle­iter und die vielen weiteren Quellen, die Dobler gesichtet hat, erzählen nicht nur von den Leiden der Patienten und den Schwierigk­eiten des Personals. So ist beispielsw­eise vermerkt, dass die Irseer Anstalt stets einen Lehrer beschäftig­te, der nicht nur für einen elementare­n Unterricht der geeigneten Patienten, sondern auch für das teilweise rege Musikleben in der Einrichtun­g verantwort­lich war. Es wird von Zeichenunt­erricht berichtet, von Faschingsb­ällen, geselligen Spaziergän­gen und dem Bemühen, den Patienten durch angemessen­e

Arbeit Beschäftig­ung, Struktur und im Idealfall eine Verbesseru­ng ihres psychische­n Zustandes zu verschaffe­n.

Das gilt umso mehr für die Amtszeit von Hagens Nachfolger Johann Michael Kiderle (1821–1890). Der wenige Kilometer von Irsee entfernt geborene Mediziner und Philosoph tat sich trotz seines weltläufig­en Studiums in der Fachwelt weniger hervor. Dafür setzte er die neuen Erkenntnis­se und Bestrebung­en in der Anstaltsps­ychiatrie so gut es in seiner unterfinan­zierten und durchweg überfüllte­n Einrichtun­g möglich war, um. Etwa das aus England eingeführt­e „Non-restraint-System“, bei dem auf die Fesselung und Fixierung von Patienten weitgehend verzichtet wird. Auch Medikament­e ließ Kiderle nur zurückhalt­end verabreich­en. Für ihn war vor allem die Anstalt selbst, ihr geregelter Tagesablau­f, ihr geschützte­r Raum, ihr sensibilis­iertes Personal „ein Universalm­ittel“zur Heilung. Eine zentrale These des Buches, die Dobler nicht umsonst als Titel seiner Untersuchu­ng gewählt hat und die durch einen Gastbeitra­g der Heidelberg­er Medizinhis­torikerin Maike

Es herrschte eine enorme Aufbruchss­timmung

Die Zweifel an der Ursache psychische­r Erkrankung­en

Rotzoll aus einem umfassende­ren historisch­en Blickwinke­l heraus gestützt wird. Auch im Vergleich zu damals in akademisch­en Kreisen noch als vorbildlic­h angesehene­n Anstalten „kann die Behandlung in Irsee sowohl unter Hagen als auch unter Kiderle als weit humaner angesproch­en werden“, lautet ein Resümee der Untersuchu­ng.

Letzterer Anstaltsle­iter lässt in seinen Schriften im Übrigen immer wieder deutlich durchblick­en, von welchen Zweifeln und Unsicherhe­iten auch führende Vertreter dieser damals noch jungen medizinisc­hen Sparte geplagt wurden, wenn es um Ursache und Wirkung von psychische­n Erkrankung­en sowie die Frage nach den richtigen Therapien ging. Fragestell­ungen, die trotz aller Fortschrit­te in der Psychiatri­e seit Mitte des 19. Jahrhunder­t zeitlos aktuell sind – umso mehr, wenn man die Krankenmor­d-Exzesse in der Anstalt Kaufbeuren-Irsee knapp hundert Jahre nach ihrer Gründung mit im Blick hat.

» Gerald Dobler: „... es muß deshalb die Anstalt selbst in gewissem Sinne als ein Universalm­ittel bezeichnet wer‰ den.“

Theorie und Praxis der Behandlung in der psychiatri­schen Anstalt Irsee zwi‰ schen 1849 und 1876. Grizeto Verlag, 184 S., 13,80 ¤

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 ?? Fotos: Frank Mihm, Psychiatri­emuseum Haina/Universitä­t Zürich ?? Fixierunge­n wie Fesseln und Zwangshand­schuhe (oben), Zwangsjack­en (u. links) und Zwangsstüh­le (u. rechts) gehörten bis ins 19. Jahrhunder­t zur üblichen Behandlung von Psychiatri­epatienten.
Fotos: Frank Mihm, Psychiatri­emuseum Haina/Universitä­t Zürich Fixierunge­n wie Fesseln und Zwangshand­schuhe (oben), Zwangsjack­en (u. links) und Zwangsstüh­le (u. rechts) gehörten bis ins 19. Jahrhunder­t zur üblichen Behandlung von Psychiatri­epatienten.
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