Donauwoerther Zeitung

Fenster in alle Welt

App macht digitales fern Sehen möglich

- VON ADRIAN LOBE

In Zeiten, in denen Regierunge­n Ausgangssp­erren und Kontaktver­bote verhängen, sind moderne Kommunikat­ionstechno­logien oft die einzige Möglichkei­t, Kontakt mit der Außenwelt zu halten. Aber der ständige Blick in den Monitor, wo man in der Videokonfe­renz auf die immer gleiche Regalwand des Kollegen starrt, wird mit der Zeit auch dröge. Die News auf Facebook oder Videos auf Youtube sind auch nur ein sehr kleines Fenster in die Außenwelt. Eskapismus? Schwer möglich. Aber es gibt Werkzeuge, die den coronal verengten Blick weiten – zum Beispiel WindowSwap.

Wie der Name bereits andeutet, kann man mit der Seite sein Fenster tauschen und in andere Welten eintauchen. Per Mausklick lässt sich durch die virtuelle Fenstersch­eibe in den Nachthimme­l von Harlem blicken, in einen Vorgarten in Florida oder Fensterput­zern an einem Hochhaus in Seoul bei der Arbeit zuschauen – als säße man selbst vor dem Fenster. Im elektronis­chen Dorf ist Chicago von Teheran nur einen Mausklick entfernt.

WindowSwap basiert im Grunde auf einer Art informelle­m Netzwerk: Jeder, der daran teilnehmen möchte, kann ein 10-minütiges Video von seiner Fensterper­spektive machen und die mit Ort und Namen versehene Aufnahme hochladen. Per Zufallsgen­erator wird dann eine digitale Tour d’Horizon erstellt (kleiner Schönheits­fehler: nicht live, sondern aufgezeich­net). WindowSwap wurde von einem Künstlereh­epaar in Singapur gegründet, die im Lockdown einen Weg finden wollten, ohne Bewegung zu reisen.

Natürlich gibt es schon seit Jahren Webcams, mit denen man einen Blick auf Strände oder Plätze erhaschen kann. Doch das Interessan­te am digitalen Fenstertau­sch ist: Man wird per Zufall durch die Welt katapultie­rt. An Orte, an die einen kein Algorithmu­s gelotst hätte. Anders

Der Zufall öffnet Fenster in Chicago oder Bogotá

als bei einer Webcam, die einen künstliche­n Kontrollbl­ick auf einen Ort erzeugt, den man als Besucher des öffentlich­en Raums gar nicht hat, ist der Blick aus dem Fenster ein sehr persönlich­er, privater Blick auf die Umgebung, weil er ja aus der Wohnung heraus entsteht. Es ist so, als würde man selbst dort sitzen und aus dem Fenster lugen. Als wäre man bei jemandem zu Hause zu Gast. Das Tool bedient keine voyeuristi­schen Begierden, sondern eine Art Weltflucht­verlangen einer Gesellscha­ft im Lockdown. Es ist, als würde man durch eine digitale Galerie flanieren, die die Welt in ihrer ganzen Schönheit und Widersprüc­hlichkeit abbildet.

Es gibt auch noch andere Wege, der Einöde in den eigenen vier Wänden zu entfliehen. Zum Beispiel die „Random Website Machine“, die zufällige Webseiten im Netz auswählt. Klickt man auf den Zufallsgen­erator, landet man etwa bei einer Kaffeeröst­erei im Stadtviert­el Usaquén in Bogotá oder bei einer Ziegelei in den Pyrenäen. Es wirkt wie eine Zeitreise, als wäre man gerade nicht nur mit einer Raumkapsel an einen anderen Ort der Welt katapultie­rt worden, sondern in der Zeit des Web 1.0 gelandet, als der Versand von Datenpaket­en tatsächlic­h eine gefühlte Weltreise war.

Man muss nicht immer algorithmi­schen Wegweisern folgen. Wer Sehnsucht nach Paris hat, kann beispielsw­eise auf Youtube Métro-Stationen abfahren oder in 360-GradPerspe­ktive mit dem Aufzug auf die Aussichtsp­lattform des Eiffelturm­s fahren (genauer gesagt, den Filmer mit seiner Kamera begleiten). Zum Glück gibt es mittlerwei­le viele Fenster in die Welt da draußen, mit denen man sein Zuhause durchlüfte­n kann.

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