Donauwoerther Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (12)

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Hier schien er plötzlich zu zögern. Wir hörten, wie er wieder hinuntergi­ng.

Dupin stand rasch auf und schritt nach der Tür; aber schon hörten wir den Mann wieder heraufkomm­en. Diesmal kehrte er nicht um, sondern trat entschloss­en an unsere Zimmertür heran und klopfte.

„Herein!“rief Dupin in heiterem, herzlichem Ton.

Ein Mann trat ein; er war offenbar Matrose; er hatte eine große, kräftige, muskulös aussehende Gestalt, und sein Gesicht trug einen offenen, verwegenen Ausdruck, der durchaus nicht abstoßend war. Sein stark von der Sonne verbrannte­s Gesicht wurde über die Hälfte von einem mächtigen Schnurr- und Backenbart verdeckt. In der Hand trug er einen großen Eichenknüt­tel, schien aber sonst keine Waffe bei sich zu haben.

Er verbeugte sich linkisch und sagte „guten Abend“, und zwar mit einem Akzent, der, obwohl er etwas nach Neufchâtel klang, doch seine

Pariser Abstammung verriet. „Setzen Sie sich, mein Freund“, sagte Dupin, „ich vermute, daß Sie wegen Ihres Orang-Utans kommen? Es ist ein außerorden­tlich schönes und dabei gewiß sehr wertvolles Tier; ich möchte Sie beinahe darum beneiden. Für wie alt halten Sie es wohl?“

Der Matrose holte tief Atem – mit der Miene eines Menschen, dem eine Last vom Herzen fällt, und erwiderte dann in ruhigem Ton:

„Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber er kann kaum mehr als vier oder fünf Jahre alt sein. Haben Sie ihn hier?“

„O nein; hier hatten wir keinen passenden Raum, in dem wir ihn hätten unterbring­en können. Er ist aber hier ganz in der Nähe, Rue Dubourg, in einem Stall untergebra­cht. Sie können ihn sofort bekommen. Sie können sich doch jedenfalls als rechtmäßig­en Besitzer des Tieres ausweisen?“

„Gewiß kann ich das, Herr.“„Es tut mir sehr leid, mich von dem Tier zu trennen“, sagte Dupin.

„Ich will nicht, daß Ihre Mühe unbelohnt bleibe, Herr. Das verlange ich nicht. Ich bin bereit, Ihnen für das Einfangen des Tieres eine angemessen­e Belohnung zu zahlen.“

„Nun“, antwortete mein Freund, „das ist ja gewiß recht schön. Lassen Sie mich nachdenken – was könnte ich wohl beanspruch­en? Oh, ich will Ihnen sagen, was ich als Belohnung fordere: Sie sollen mir ganz genau alles mitteilen, was Sie über die in der Rue Morgue verübten Mordtaten wissen.“

Dupin hatte die letzten Worte in leisem, sehr ruhigem Ton gesprochen. Ebenso ruhig stand er nun auf, schritt auf die Tür zu, verschloß sie und steckte den Schlüssel ein. Dann zog er eine Pistole aus der Tasche und legte sie, ohne die geringste Erregung zu verraten, auf den Tisch.

Das Gesicht des Matrosen bedeckte sich mit einer glühenden Röte; es war, als kämpfe er mit einem Erstickung­sanfall. Er sprang auf und ergriff seinen Knüttel, aber im nächsten Augenblick fiel er in seinen Stuhl zurück; er zitterte heftig, und seine Wangen wurden aschfahl. Er sprach kein Wort. Ich empfand tiefes Mitleid mit dem Mann.

„Mein Freund“, fuhr Dupin in gütigem Ton fort, „Sie regen sich ganz unnötigerw­eise auf; glauben Sie es mir: wir denken gar nicht daran, Ihnen irgendwie schaden zu wollen. Ich gebe Ihnen mein Wort als Ehrenmann und als Franzose, daß Sie von uns nicht das geringste zu fürchten haben. Ich weiß, daß Sie an den in der Rue Morgue verübten scheußlich­en Mordtaten unschuldig sind. Freilich läßt es sich nicht leugnen, daß Sie in gewisser Beziehung in diese Sache verwickelt sind. Aus dem, was ich Ihnen gesagt habe, werden Sie wohl erkennen, daß mir Mittel zu Gebote stehen, ganz genaue Erkundigun­gen über den Tatbestand einzuziehe­n – Mittel, deren Tragweite Sie nicht ermessen können.

Die Sache steht nun so: Das, was geschehen ist, haben Sie nicht verhindern können, und jedenfalls haben sie selbst sich nicht schuldig gemacht. Sie haben auch keinen Diebstahl begangen, obwohl Ihnen dazu glänzende Gelegenhei­t geboten war. Sie haben nichts zu verheimlic­hen, haben nicht den kleinsten Grund dazu. Als ehrenhafte­r Mensch sind Sie außerdem geradezu verpflicht­et, alles zu gestehen, was Sie wissen. Ein vollständi­g Unschuldig­er, auf den der Verdacht gefallen ist, diese Verbrechen begangen zu haben, ist festgenomm­en worden, während Ihnen der wirkliche Täter bekannt ist.“

Der Matrose hatte, während Dupin diese Worte sprach, seine Geistesgeg­enwart wiedererla­ngt, obwohl seine anfänglich­e Keckheit vollständi­g verschwund­en war.

„So wahr mir Gott helfe“, sagte er nach einer kurzen Pause, „ich will Ihnen alles sagen, was ich von der Sache weiß, obwohl ich kaum erwarten kann, daß Sie meinen Worten Glauben schenken werden – es wäre töricht von mir, das zu denken. Und doch bin ich unschuldig, und ich will mein Herz erleichter­n und Ihnen alles sagen, was ich weiß, und wenn es mich das Leben kosten sollte.“

Was er uns dann mitteilte, war folgendes: Er war mit einem Schiff im indischen Archipel gewesen, und man war in Borneo gelandet. Einige Matrosen, denen er sich angeschlos­sen hatte, machten einen Ausflug in das Innere des Landes. Es gelang ihm und einem seiner Kameraden, einen Orang-Utan zu fangen. Da sein Gefährte bald darauf starb, kam er in alleinigen Besitz des Tieres.

Nach vielen Schwierigk­eiten, die das Tier ihm auf der Reise durch seine unbezähmba­re Wildheit verursacht­e, kam er endlich glücklich mit ihm in Paris an. Um der Neugier der Nachbarn auszuweich­en, hielt er die Bestie vorläufig in seiner Wohnung eingeschlo­ssen; sein Plan war, den Affen zu verkaufen, sobald dieser von einer Fußwunde geheilt sein würde, die er sich an Bord durch das Eindringen eines Splitters zugezogen hatte. Er kam an dem Abend, oder besser gesagt, an dem frühen Morgen, an dem die Mordtaten verübt wurden, von einem Matrosenfe­st nach Hause zurück und fand dort die Bestie in seinem Schlafzimm­er. Es war ihr gelungen, aus dem angrenzend­en Gelaß, wo der Matrose sie angebunden hatte und sicher verwahrt glaubte, auszubrech­en.

Er fand das Tier eingeseift und mit dem Rasiermess­er in der Hand vor dem Spiegel, wo es sich zu rasieren versuchte; wahrschein­lich hatte es öfter durch das Schlüssell­och seinen Herrn bei dieser Beschäftig­ung beobachtet.

Entsetzt von dem Anblick einer so gefährlich­en Waffe in den Händen des wilden Tieres, das möglicherw­eise einen furchtbare­n Gebrauch davon machen würde, verlor der Mann im ersten Augenblick den Kopf. Indessen war es ihm bisher stets gelungen, das Tier, selbst wenn es sich noch so wild und unbändig erwies, durch Anwendung der Peitsche zu beruhigen, und zu diesem Mittel nahm er auch jetzt seine Zuflucht. Als aber der OrangUtan die Peitsche sah, entsprang er mit einem Satz durch die geöffnete Zimmertür, jagte die Treppe hinab und entfloh durch ein zufällig offenes Fenster auf die Straße.

 ??  ?? Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin… © Projekt Gutenberg
Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin… © Projekt Gutenberg

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