Donauwoerther Zeitung

Den Tränen nahe

Viel Gefühl bei der Kanzlerin, Wutausbrüc­he bei ihrem Vize. In einem Jahr mit der Pandemie ist der Ton in der Politik emotionale­r geworden. Was steckt dahinter?

- VON STEFAN LANGE

Berlin So viel Emotionali­tät war bei Kanzlerin Angela Merkel selbst auf dem Höhepunkt der Flüchtling­sbewegung nicht zu sehen. Im CoronaGesp­räch mit Müttern und Vätern präsentier­te sich die CDU-Politikeri­n vor kurzem tief betroffen und den Tränen nahe. Auch Gesundheit­sminister Jens Spahn – zu Beginn der Pandemie ein strenger, geradezu schroffer Macher – zeigt auf einmal Gefühle, gesteht Fehler ein und entschuldi­gt sich. Beim kühlen Hanseaten Olaf Scholz fallen gar alle Schranken, der Vizekanzle­r richtet deftige Schimpfwor­te an die Adresse von EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen. Eine CoronaPand­emie, zwei Gesichter – wie kommt es, dass Spitzenpol­itiker neuerdings so emotional werden?

Klar ist: Die schlimme Entwicklun­g der Pandemie hinterläss­t ihre Spuren. Die vielen Toten, die Kranken und Einschränk­ungen gehen auch Politikern nahe. Doch damit ist die neue Empathie allein nicht zu erklären. Zumal das Spitzenper­sonal in den Schaltzent­ralen ganz anders geschult ist und viel mehr auf seine Außenwirku­ng achtet, als andere es tun. „Das Handeln der Politik gerade am Anfang der Pandemie war allzu menschlich. Aufgrund mangelnder Fakten und einer nie da gewesenen Situation wurde das Naheliegen­de in die Wege geleitet“, erklärt Sammy Stauch, der zusammen mit Tatjana Ditko die Deutsche Rednerschu­le in Berlin leitet. Das Naheliegen­de war die Einschränk­ung von Kontakten. Das konnte schnell umgesetzt werden, Bund und Länder hatten zudem Glück, weil die Einschränk­ungen zwar von einzelnen

Gruppen kritisiert, von der großen Breite der Bevölkerun­g aber mitgetrage­n wurden.

Die überwiegen­de Bereitscha­ft, die harten Corona-Maßnahmen zu akzeptiere­n, rührt nach Einschätzu­ng von Stauch daher, dass Menschen von komplexen Situatione­n schnell überforder­t sind. „Sie denken in solchen Fällen eher über konkrete Handlungen nach als über abstrakte Ziele“, sagt der Experte, der unter anderem Sozialwiss­enschaften und Kommunikat­ion studiert hat. Ditko lenkt in diesem Zusammenha­ng den Blick auf die Mediennutz­ung, die in Corona-Zeiten stark zugenommen hat. Medienwiss­enschaftle­r nennen das den Uses-andGratifi­cations-Approach: Menschen wenden sich Medieninha­lten immer dann intensiv zu, wenn sie ihren Interessen, Bedürfniss­en und Erwartunge­n entspreche­n.

Die Corona-Politik wurde vor allem von Kanzlerin Merkel, ihrem Kabinett sowie den Ministerpr­äsidentinn­en und Ministerpr­äsidenten bestimmt. Auf einen harten Lockdown folgten Lockerunge­n, darauf wieder Einschränk­ungen. Das zieht sich durch das ganze Corona-Jahr und dürfte am Mittwoch seine Fortsetzun­g finden, wenn Bund und Länder erneut beraten.

Jede weitere Entscheidu­ng baut auf den bisherigen auf und setzt den eingeschla­genen Kurs fort. Positive Effekte wurden dabei eben diesen Entscheidu­ngen zugesproch­en. „Negative hingegen wurden tendenziel­l ausgeblend­et, um die Widerspruc­hsfreiheit des Gesamtbild­es zu wahren“, erklären die beiden Kommunikat­ionsexpert­en.

Stauch und Ditko halten solch ein Verhalten für ganz natürlich. „Schließlic­h will jeder ein positives, widerspruc­hsfreies Bild von sich nach außen tragen“, sagt Ditko, die unter anderem einen Abschluss in Unternehme­nskommunik­ation und Rhetorik hat, und ergänzt: „Das gilt gleichsam für soziale Gruppen. Wie zum Beispiel für eine Gruppe von Ministerpr­äsidenten.“

Doch das Blatt wendet sich. Nach einem Jahr Corona haben die Menschen mehr Informatio­nen über das Coronaviru­s. Die Einschränk­ungen der Freiheitsr­echte werden jetzt differenzi­erter diskutiert als zum Ausbruch der Pandemie. Auch, weil dabei mit den Fällen von Jobverlust oder aufgeschob­enen Operatione­n Erfahrunge­n einfließen, die erst nach und nach gemacht wurden. Würden die politische­n Entscheide­r bei den Corona-Maßnahmen jetzt aber Zugeständn­isse machen, wäre das kein guter Weg, sagen Ditko und Stauch. Die Legitimati­on aller bisherigen Entscheidu­ngen würde schnell angezweife­lt werden. „Anderersei­ts sind Spitzenpol­itiker gezwungen, auf wachsende Kritik und offensicht­liche Widersprüc­he ihrer Politik einzugehen“, erklärt Stauch. „Daher bleibt nur ein Ausweg: Weniger autoritäre Appelle. Dafür das Signalisie­ren von Verständni­s – ohne aber den eingeschla­genen Weg zu verlassen.“

Gut möglich also, dass die öffentlich­en Gefühlsaus­brüche des politische­n Spitzenper­sonals noch zunehmen werden. Aber auch dafür gibt es eine Grenze, nämlich die Umfragewer­te. „Das dürfte so lange funktionie­ren“, sagen Ditko und Stauch, „wie die Gesellscha­ftsmehrhei­t das akzeptiert“.

Inzwischen werben Politiker mehr um Verständni­s

 ?? Foto: John Macdougall, dpa ?? Emotionale Momente: Bundeskanz­lerin Angela Merkel im Gespräch mit Eltern über die Folgen der Corona‰Politik.
Foto: John Macdougall, dpa Emotionale Momente: Bundeskanz­lerin Angela Merkel im Gespräch mit Eltern über die Folgen der Corona‰Politik.

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