Donauwoerther Zeitung

Gewitter im Kopf

Nach einem Anfall im Klassenzim­mer vor zwei Jahren wurde bei dem 17-jährigen Oliver die Diagnose Epilepsie gestellt. Wie der junge Mann damit umgeht – und welchen Rat er Betroffene­n geben kann

- VON SUSANNE KLÖPFER

Augsburg/Offingen Seinen ersten Krampfanfa­ll hat Oliver schon im Alter von 15 Jahren. Damals steht er kurz vor seinen Abschlussp­rüfungen in der 9. Klasse an der Mittelschu­le und ist deshalb ziemlich gestresst. Während einer Schulstund­e fällt er plötzlich vom Stuhl und lässt einen Hilfeschre­i los – doch daran kann er sich nicht mehr erinnern. Als Oliver aufwacht, liegt er auf dem Boden. Orientieru­ngslos. Er hat Schmerzen am ganzen Körper. Im Klassenzim­mer befinden sich nur noch seine Lehrerin und Notfallsan­itäter. Er wird in die Uniklinik Augsburg gebracht. Dort erleidet er einen zweiten Krampfanfa­ll. Die Diagnose der Ärzte: Epilepsie.

Oliver aus Offingen im Landkreis Günzburg ist einer der rund 500 000 Menschen bundesweit, die nach Angaben der Deutschen Epilepsiev­ereinigung an dieser neurologis­chen Erkrankung leiden. Epileptisc­he Anfälle sind Funktionss­törungen des Gehirns, bei der sich Hirnzellen unkontroll­iert entladen, was auch mit einem „Gewitter im Kopf“verglichen wird (siehe Infokasten). Die Kommunikat­ion der Nervenzell­en, die etwa für Sprache, Bewegung und Bewusstsei­n zuständig sind, ist dann – für einige Minuten – völlig gestört. An diesem Montag ist europäisch­er Tag der Epilepsie, der mehr Bewusstsei­n für die Krankheit schaffen soll.

Epilepsie ist für jeden Betroffene­n eine schwierige Erkrankung – besonders für Jugendlich­e, auch für den 17-jährigen Oliver, der zwar offen über seine Diagnose spricht, seinen Nachnamen aber lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. „Wenn ich mich an alle Regeln halten würde, dann hätte ich keine Jugend“, sagt er. Feiern gehen und Alkohol trinken lässt sich der Jugendlich­e mit den schwarzen verwuschel­ten Haaren und der runden schwarzen Brille nicht verbieten. Obwohl ihm bewusst ist, dass Alkoholkon­sum Krampfanfä­lle fördern kann. Seiner Ärztin zufolge soll er höchstens einen viertel Liter Bier trinken. „Aber ich bin 17, also bitte“, erwidert Oliver. Eine persönlich­e Grenze hat er sich dennoch beim

Trinken gesetzt. Einen Anfall wegen Alkohols habe er bisher noch nicht gehabt.

Dass Jugendlich­e mit ihrer Diagnose nur normal leben wollen, erlebt Claudia Hackel, Epilepsieb­eraterin beim Bunten Kreis in Augsburg, immer wieder. Für Fragen und Probleme im Alltag steht sie Oliver zur Seite. „Jugendlich­en sollte man eher nichts verbieten, sondern gemeinsam mit ihnen schauen, was man genau tun kann, damit man mit einer möglichst guten Prognose weitergeht“, sagt Hackel, die im vergangene­n Jahr mit ihrem Kollegen etwa 170 Betroffene beraten hat.

Derzeit macht Oliver eine Ausbildung zum Fachangest­ellten für Arbeitsmar­ktdienstle­istungen. In seiner Freizeit schaut er gerne japanische Zeichentri­ckfilme. Er sagt: „Ich mag alles mit Adrenalin.“Egal, ob Achterbahn oder Gokart fahren, das gefalle ihm. Angst habe er nicht, währenddes­sen einen Anfall zu bekommen. „Von meiner Krankheit lasse ich mir nicht den Spaß verbieten“, betont er. Auch Bungee-Jumping würde er gerne ausprobier­en. Aber dafür hat er sich genaue Bedingunge­n auferlegt: eine gute Einstellun­g seiner Medikament­e und einen längeren Zeitraum ohne Anfälle.

Anders als seine gleichaltr­igen Freunde kann Oliver aktuell allerdings keinen Führersche­in machen. Erst wenn er mindestens ein Jahr keinen epileptisc­hen Anfall hatte, darf er mit den Fahrstunde­n beginnen. „Es war schon traurig für mich, als meine Freunde die Bilder ihrer Führersche­ine online geteilt haben“, sagt Oliver. Noch zwei Monate braucht er, bis er das benötigte anfallfrei­e Jahr geschafft hat. Mittlerwei­le akzeptiert er seine Krankheit zwar, weil er sich damit auseinande­rgesetzt hat, aber das war nicht immer so.

Vor seinen ersten Krampfanfä­llen war Epilepsie kein Begriff für Oliver. In der Uniklinik Augsburg diagnostiz­ierten die Ärzte nach tagelangen Untersuchu­ngen eine sogenannte genetische Epilepsie, so ist zumindest die Vermutung. Danach habe er die Diagnose zunächst nicht wahrhaben wollen und alles verdrängt. Schwierig war es für ihn, als er das erste Mal danach wieder in die Schule zurückkehr­te. „Als ich damals in das Klassenzim­mer gekommen bin, haben mich alle angestarrt. Das war einer der unangenehm­sten Momente für mich“, sagt Oliver.

Sein Eindruck: Nur wenige Mitschüler behandelte­n ihn noch normal. Lehrer nahmen ihn in Schutz und bevorzugte­n ihn – was den Jugendlich­en aber nervte.

Trotz einem Jahr ohne Anfall ging es Oliver mental immer schlechter und er hatte sogar SuizidGeda­nken. In dieser schwierige­n Zeit habe ihm der Kontakt zu seiner fünf Jahre älteren Schwester sehr geholfen. Er bezeichnet sie als seine beste Freundin. Die Gespräche mit ihr zeigten Oliver, dass er sich mehr mit seiner Diagnose auseinande­rsetzen muss. Olivers Rat lautet daher für andere Jugendlich­e mit Epilepsie: „Man sollte die Krankheit nicht versuchen zu verdrängen, sondern zu lernen, damit zu leben.“

Manchmal habe er sich damals einen anderen betroffene­n Jugendlich­en zum Reden gewünscht, der seine Situation nachvollzi­ehen kann. Nun ist Oliver diese Person selbst und möchte anderen helfen. Momentan hat er Kontakt zu einem 17-Jährigen, der ebenfalls Epilepsie hat. Die Beratungss­telle in Augsburg hat den Kontakt vermittelt. Oliver findet es mittlerwei­le wichtig, sich mit anderen Jugendlich­en über seine Krankheit und seine Erfahrunge­n auszutausc­hen.

 ?? Symbolfoto: Friso Gentsch, dpa ?? Um die Krankheit Epilepsie zu diagnostiz­ieren, werden Elektroden zur Messung von Gehirnströ­men auf der Kopfhaut befestigt.
Symbolfoto: Friso Gentsch, dpa Um die Krankheit Epilepsie zu diagnostiz­ieren, werden Elektroden zur Messung von Gehirnströ­men auf der Kopfhaut befestigt.
 ??  ?? Oliver, 17
Oliver, 17

Newspapers in German

Newspapers from Germany