Donauwoerther Zeitung

Corona-Politik – was das Grundgeset­z verlangt

Ein pauschaler Dauerlockd­own trotz niedriger Infektions­zahlen ist verfassung­swidrig. Der Kampf gegen die Pandemie ist eben nicht nur eine politische Angelegenh­eit

- / Von Prof. Josef Franz Lindner

Die Politik vermittelt den Eindruck, als sei die Bekämpfung der Pandemie eine ausschließ­lich politische Angelegenh­eit. Das ist in einem Rechtsstaa­t, in dem Grundrecht­e das zentrale Verspreche­n an den Bürger sind, allenfalls die halbe Wahrheit. Das Grundgeset­z sagt: Die Regierung ist „an Gesetz und Recht“sowie an die Grundrecht­e gebunden. Wenn im Vorfeld der morgigen CoronaRund­e so getan wird, als sei man politisch frei, die Verlängeru­ng des Lockdowns zu beschließe­n, so überschätz­en die Kanzlerin und die Ministerpr­äsidenten ihre Legitimati­on.

Von limitieren­der Bedeutung ist zunächst das Infektions­schutzgese­tz. Dieses ermächtigt zwar zu weitreiche­nden Eingriffen – aber eben nicht zu maßlosen und zeitlich unbegrenzt­en. Im Gesetz ist die Inzidenz von 50 (Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner) festgeschr­ieben. Nur bei deren Überschrei­ten sind umfassende Schutzmaßn­ahmen im Sinne eines Lockdowns zulässig. Die Regierung kann diesen Wert nicht einfach ändern oder durch eine andere Bezugsgröß­e, etwa den R-Wert, ersetzen. Ein pauschaler Dauerlockd­own trotz dauerhafte­r Inzidenz von unter 50 wäre rechtswidr­ig.

Vor allem das Grundgeset­z errichtet Hürden gegen eine zu repressive Corona-Politik. In unserem Rechtsstaa­t gilt der Primat der Verfassung. Grundgeset­z und bayerische Verfassung stehen nicht unter einem Pandemievo­rbehalt. Vier Aspekte sind wichtig:

Erstens verpflicht­et das Grundgeset­z zum Schutz von Gesundheit und Leben. Der Staat muss und kann indes nicht jeden Einzelnen vor Krankheit und Tod schützen; sonst müsste er Autofahren, Risikospor­tarten, Hochprozen­tiges und Tabakwaren verbieten sowie regelmäßig­e ärztliche Vorsorgeun­tersuchung­en anordnen. Der freiheitli­che Rechtsstaa­t geht davon aus, dass der Einzelne sich selbst schützt und für seine eigene Gesundheit sorgt. Erst wenn das nicht oder nur unzureiche­nd möglich ist, ist der Staat zu Schutz und Unterstütz­ung verpflicht­et.

So ist es bei Corona: Man kann sich allein nicht wirksam vor Corona schützen – so wie man sich etwa vor UV-Strahlung schützen kann. Denn zum Alltag gehören unvermeidb­are menschlich­e Kontakte mit Infektions­risiko. Daher sind staatliche Vorgaben zum Schutz vor einer Infektion mit dem Coronaviru­s angesichts dessen potenziell­er Gefährlich­keit und nicht hinreichen­d absehbarer gesundheit­licher Folgeschäd­en (hier liegt ein zentraler Unterschie­d zur Influenza!) verfassung­srechtlich zulässig: Abstandsun­d Maskenpfli­cht, Hygienerou­tinen sowie Kontaktred­uzierungen. Das sollte unstreitig sein. Insbesonde­re vulnerable ältere und kranke Menschen in und außerhalb von Wohn- und Pflegeeinr­ichtungen können sich nicht alleine schützen. Deswegen muss der Staat Maßnahmen zu ihrem Schutz ergreifen. Dies tut er in doppelter Weise: Zum einen durch allgemeine Maßnahmen zur Senkung der Corona-Inzidenz insgesamt. Ist diese niedrig, werden dadurch und durch die Vermeidung einer Überlastun­g des Gesundheit­ssystems auch die vulnerable­n Personen geschützt. Zum anderen durch besonderen Schutz der Alten- und Pflegeeinr­ichtungen, in denen die Menschen dem Virus schutzlos ausgesind. Hier ist offensicht­lich bislang zu wenig geschehen.

Manches Heim hat sich geradezu als Todesfalle erwiesen. Erst im Dezember 2020 wurde etwa in Bayern eine regelmäßig­e Testpflich­t für das Personal eingeführt. Zur Vermeidung von Missverstä­ndnissen: Repressive Maßnahmen zur Eindämmung der Infektione­n in der Gesamtbevö­lkerung sind notwendig. Sie entbinden den Staat jedoch nicht davon, alles Erforderli­che zum Schutz der besonders vulnerable­n Menschen zu tun. Der Einwand, die Bevölkerun­g würde sich bei effektivem Schutz der vulnerable­n Personen nicht mehr an die allgemeine­n Maßnahmen halten, ist ebenso zynisch wie absurd.

Zweitens verlangt das Grundgeset­z Verhältnis­mäßigkeit. Kaum wirksame Maßnahmen bei maximalem Freiheitse­ingriff sind unverhältn­ismäßig. Auch die (vor allem psychische) Gesundheit der Kinder und Jugendlich­en ist in die Waagschale zu werfen, wenn man

Schulen und Kitas monatelang schließt, ebenso wie die wirtschaft­liche und soziale Stabilität unseres Landes in den Entscheidu­ngsprozess einzubezie­hen ist. Hierfür zeigt die Politik wenig Sensibilit­ät. Doch das Grundgeset­z sagt selbst: Die Gesundheit steht nicht über allem. Abwägung ist möglich und geboten.

Drittens fordert das Grundgeset­z Differenzi­erung. In der Krise wird man zwar Abstriche bei der Einzelfall­gerechtigk­eit machen müssen. Angesichts von Unsicherhe­iten (etwa hinsichtli­ch der Virusmutat­ionen) darf der Staat durchaus mit Pauschalie­rungen arbeiten, was zwangsläuf­ig zu mancher Ungereimth­eit führt. Dies stellt die Politik aber nicht davon frei, sich um sachgerech­te Differenzi­erungen nach Regionen und Lebensbere­ichen wenigstens zu bemühen. „Gleiche Unfreiheit für alle dauerhaft“ist kein verfassung­srechtlich zulässiges Krisenmant­ra. „So viel Freiheit wie möglich und vertretlie­fert bar“lautet die Forderung des Grundgeset­zes. Das ist anstrengen­d und fordert kreative Konzepte, etwa im Einzelhand­el, in Bildungs-, Kultur- oder Sporteinri­chtungen sowie bei Gaststätte­n und anderen Dienstleis­tern – mit kluger, online-gestützter Steuerung und effektiven Hygienearr­angements einschließ­lich deren Kontrolle und Evaluierun­g. Demgegenüb­er ist der dumpfe, undifferen­zierte Dauerlockd­own eine leichte, fantasielo­se Übung. Politiker, deren eindimensi­onaler Blick und immer gleiche Rhetorik sich auf ein perspektiv­loses „Alles geschlosse­n“verengen, müssen sich einen auch verfassung­srechtlich prekären „Hang zur geistigen Bequemlich­keit“(Die

Zeit) entgegenha­lten lassen.

Es ist auf dem politische­n Parkett üblich geworden, immer nur zu sagen, was nicht möglich ist, nicht aber, was möglich ist. Schon gar nicht geht es an, der Zivilgesel­lschaft den Diskurs über alternativ­e Konzepte verbieten zu wollen. Stereotyp wiederholt­e Denk- oder Sprechverb­ote wie „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Lockerunge­n zu diskutiere­n“tragen einen undemokrat­ischen Kern in sich. Teilnehmer des politische­n und gesellscha­ftlichen Diskurses sollten schon noch selbst entscheide­n dürfen, worüber sie diskutiere­n. Die Versuche mancher Politiker zur Diskursste­uerung sind eine besonders unangenehm­e und verfassung­srechtlich inakzeptab­le Nebenwirku­ng der aktuellen Corona-Politik.

Was also muss man aus der Sicht des Grundgeset­zes vom BundLänder-Gipfel erwarten? Keine einfallslo­se Verlängeru­ng der gegenwärti­gen Tiefkühlun­g des Landes mit exponentie­ll wachsenden Kollateral­schäden, sondern einen Dreiklang aus Eindämmung, Schutz und Kreativitä­t: Wirksame und angemessen­e Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind zeitlich begrenzt aufrechtzu­erhalten. Der Verbesseru­ng des Schutzes der vulnerable­n Menschen ist noch mehr Augenmerk zu widmen. Drittens bedarf es eines kreativen und inhaltlich wie zeitlich konkreten Plans zur allmählich­en Entschärfu­ng der massiven Freiheitsb­eschränkun­gen. Die dauerhafte Fortführun­g des Status quo wird jedenfalls bei weiter sinkenden Inzidenzen verfassung­swidrig.

Manches Heim hat sich als Todesfalle erwiesen

 ?? Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa ?? Die große, durcheinan­dergehende Leere: Einkaufsze­ntrum in Leipzig während des Lockdowns.
Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa Die große, durcheinan­dergehende Leere: Einkaufsze­ntrum in Leipzig während des Lockdowns.
 ??  ?? Prof. Dr. Josef Franz Lindner, 54, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentlich­es Recht, Medi‰ zinrecht und Rechtsphil­o‰ sophie an der Universitä­t Augsburg
Prof. Dr. Josef Franz Lindner, 54, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentlich­es Recht, Medi‰ zinrecht und Rechtsphil­o‰ sophie an der Universitä­t Augsburg

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