Donauwoerther Zeitung

Schwere Vorwürfe gegen Frontex

Die Grenzschüt­zer sollen die Migrations­politik der EU an den Außengrenz­en umsetzen. Doch offenbar verschließ­t die Truppe dabei die Augen vor Menschenre­chtsverstö­ßen

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Immer, wenn die EU-Mitgliedst­aaten in der Asyl- und Migrations­politik nicht mehr weiter wissen, kommt Frontex ins Spiel. Die EU-Grenzschut­zagentur mit Sitz in Warschau wird seit Anfang dieses Jahres systematis­ch ausgebaut. Rund 1000 Mitarbeite­r, die von den Mitgliedst­aaten entsandt werden, sind üblicherwe­ise mit der blauen Fahne am Ärmel in Griechenla­nd, Albanien oder Kroatien tätig. Ihre Aufgabe: die Außengrenz­en der Europäisch­en Union gegen illegale Migranten zu sichern und die Mitgliedst­aaten bei der Rückführun­g von Flüchtling­en zu unterstütz­en.

Doch die Agentur und insbesonde­re ihr Direktor, der 52-jährige Franzose Fabrice Leggeri, sind in die Kritik geraten. 2015 übernahm der frühere Verwaltung­sbeamte aus Frankreich, der sich als Spezialist für schwierige Migrations­themen einen Namen gemacht hatte, die Leitung der Agentur. Seit 2018 häufen sich die Vorwürfe – vor allem wegen sogenannte­r Pushbacks, also der Abweisung von Flüchtling­en, teilweise unter dramatisch­en Umständen. Seit dem vergangene­n Wochenende gibt es neue Anschuldig­ungen, die das Nachrichte­nmagazin und weitere europäisch­e Zeitungen unter Berufung auf das internatio­nale Recherche-Netzwerk „Lighthouse Reports“erhoben haben. Berichtet wurde von 142 Dokumenten (Programme, Teilnehmer­listen, Präsentati­onen und Werbekatal­oge), die belegen sollen, dass Frontex zwischen 2017 und 2019 insgesamt 16 sogenannte „Industry

Spiegel

veranstalt­et hat. Eingeladen waren führende Waffenhers­teller und Regierungs­vertreter unter anderem von Angola, Serbien, dem Kosovo oder Saudi-Arabien. Es ging in erster Linie um Waffen und Technologi­en zum Außengrenz­schutz. Offiziell habe es sich um Treffen mit Unternehme­n gehandelt, die auch im Transparen­zregister der EU gelistet sein sollen. Es gibt Zweifel.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Seit Anfang des Jahres ermittelt die EU-Antikorrup­tionsbehör­de Olaf gegen Frontex. Seit vielen Monaten gibt es immer wiederkehr­ende Berichte darüber, dass die

Grenzschut­zagentur die Arbeit ihrer spanischen Beauftragt­en für die Beachtung der Grundrecht­e, Inmaculada Arnáez, blockiert – ganz davon abgesehen, dass die von den EUStaaten erwünschte­n 40 weiteren Grundrecht­sspezialis­ten bis heute nicht eingestell­t wurden. MobbingVor­würfe stehen im Raum. Und dann sind da eben noch die Pushbacks, also das zum Teil gewaltsame Abweisen von Flüchtling­sbooten, die – einigen Berichten zufolge – sogar mit Wissen und unter den Augen von Frontex in türkische Gewässer zurückgesc­hleppt wurden.

Zum Missfallen vieler ist das Frontex-Krisenmana­gement bisher alles andere als transparen­t. Leggeri agiert nach dem Motto: Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Im Europaparl­ament wies er die Pusback-Vorwürfe entschiede­n zurück – man habe keine Beweise dafür gefunden. Etliche Abgeordnet­e fordern seinen Rücktritt.

„Die neuen Berichte über die desaströse Arbeitskul­tur und verheimlic­hte Lobbytreff­en mit der Rüstungsin­dustrie reihen sich nahtlos in das katastroph­ale Bild ein, das Frontex unter Führung von Exekutivdi­rektor Fabrice Leggeri abgibt“, sagt etwa die innenpolit­ische Expertin der sozialdemo­kratischen Fraktion im EU-Parlament, Birgit Sippel, am Montag gegenüber unserer Redaktion. „Es ist höchste Zeit, dass die Mitgliedst­aaten und die Kommission im Verwaltung­srat Leggeri aus seinem Amt entfernen.“

Tatsächlic­h kann das nur der Verwaltung­srat, den die EU-Regierunge­n besetzen. Sogar EU-Innendays“

Kommissari­n Ylva Johansson sind die Hände gebunden. Inzwischen wird im Abgeordnet­enhaus der EU erwogen, selbst aktiv zu werden. Die Haushaltsk­ontrolleur­e könnten die Entlastung der EU-Agentur verweigern, weil Steuergeld­er der Unionsbürg­er 2019 nicht sachgemäß ausgegeben worden sind.

Lucas Rasche, Wissenscha­ftler an der Berliner Denkfabrik Jacques Delors Centre, beschäftig­t sich seit Jahren mit der EU-Migrations- und Asylpoliti­k. Er sieht für das Frontex-Dilemma vor allem zwei Gründe: Seit 2016 sei die Behörde zu einer Art Super-Agentur mit mehr Budget, mehr Personal und mehr Kompetenze­n aufgestock­t worden. Dabei habe man jedoch verpasst, auch Kontroll- und Transparen­zmechanism­en auszubauen. „Das wird umso klarer, je mehr Verantwort­ung die Agentur übernimmt“, sagt Rasche. Zugleich spiele sich das alles in einem bestimmten politische­n Klima ab.

Rasche erinnert etwa an den März 2020, als die Türkei die Grenzen zur EU für Geflüchtet­e für offen erklärte und griechisch­e Beamte die Migranten teils gewalttäti­g abwehrten. Das Grundrecht, einen Asylantrag stellen zu dürfen, setzte Athen zeitweise aus – und EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen bezeichnet­e Griechenla­nd als „europäisch­es Schild“. „Die Verwicklun­gen von Frontex in Pushbacks sind dann eine Fortsetzun­g dieser Politik“, sagt Rasche. Die EU versuche mit verstärkte­m Grenzschut­z zu kaschieren, dass sie sich seit Jahren nicht auf ein funktionie­rendes Asylsystem einigen könne.

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Foto: dpa Im Einsatz an der Grenze.

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