Donauwoerther Zeitung

Stich in ein Wespennest

Immer mehr Fälle von fragwürdig­en Impfungen kommen durch Recherchen ans Licht. Nach einem Landrat, dem Augsburger Bischof und seinem Stellvertr­eter geht es jetzt sogar um falsche Anmeldunge­n in Seniorenhe­imen der AWO. Das Impfsystem lädt zum Missbrauch ei

- VON JÖRG HEINZLE, MICHAEL POHL, HOLGER SABINSKY‰WOLF, DANIEL WIRSCHING UND FRIDTJOF ATTERDAL

Augsburg „Medizinisc­hes Katastroph­en-Hilfswerk“– MHW – prangt auf dem weißen Kleinbus mit den auffällige­n blauen, gelben und leuchtend roten Querstreif­en, der vor dem Seniorenhe­im parkt. Es ist ein grauer Samstagvor­mittag im Februar, der Sahara-Wüstensand weit oben in der Atmosphäre gibt dem Himmel einen seltsam gelblichen Farbstich. Im Seniorenze­ntrum St. Anna und Wolfhard in AugsburgLe­chhausen, das bis in die 80er Jahre als Krankenhau­s für Infektions­kranke und Beatmungsp­atienten diente, hat sich nicht nur das mobile Impfteam mit zahlreiche­n Dosen des Biontech-Impfstoffs „Comirnaty“angekündig­t. Es gibt – zufällig oder nicht – auch hohen Besuch im Heim.

Nicht jeder erkennt den Mann in dem dunklen Anzug mit dem weißen Stehkragen sofort. Manch einer schaut erstaunt zweimal hin, als der Mann mit „Herr Bischof“begrüßt wird. Auch der Generalvik­ar wird von Vertretern der Caritas begrüßt. Der Bischof, so berichten es später Augenzeuge­n, reiht sich vor der Cafeteria in die Warteschla­nge der „Impflinge“ein, wie die zu impfenden Menschen im Behörden- und Mediziner-Deutsch tatsächlic­h genannt werden. Später wird es heißen, der Augsburger Bischof Bertram Meier, 60, und sein Generalvik­ar Harald Heinrich, 53, seien an diesem Samstag geimpft worden, weil es kurzfristi­g überzählig­en Impfstoff gegeben habe.

In ganz Deutschlan­d häufen sich die Meldungen über fragwürdig­e, frühe Corona-Impfungen. Seitdem klar ist, dass der straffe Zeitplan nicht eingehalte­n werden kann, weil der Impfstoff noch knapp ist, kommen immer mehr Fälle ans Licht, in denen hunderte Polizisten, Führungskr­äfte aus Behörden oder Kommunalpo­litiker aus nicht nachvollzi­ehbaren Gründen schon ihre Impfungen erhalten haben. Es ist wie der Stich in ein Wespennest.

Erst diese Woche haben auch der Landrat des Kreises Donau-Ries,

Stefan Rößle (CSU), und der Donauwörth­er Oberbürger­meister Jürgen Sorré (parteilos) eingeräumt, dass sie bereits Anfang des Jahres eine Corona-Impfung bekommen haben. Im Nachhinein sehen die Politiker dies selbst kritisch. Es sind keine Einzelfäll­e. Daten, die unserer Redaktion vorliegen, deuten sogar eher auf einen systematis­chen Missbrauch von Impfmittel­n hin, vor allem dann, wenn mobile Impfteams in Seniorenhe­imen vor Ort impfen statt in den staatliche­n Impfzentre­n.

Keine zwei Kilometer Luftlinie von dem Augsburger Caritas-Heim entfernt parkt am gleichen Samstagvor­mittag zur gleichen Zeit auch ein MHW-Kleinbus im Hinterhof eines Augsburger Seniorenhe­ims der Arbeiterwo­hlfahrt (AWO). Auch hier ist ein mobiles Team des Augsburger Impfzentru­ms seit dem Morgen zugange, um Personal und Heimbewohn­er zu impfen. In der Warteschla­nge befinden sich auch gut ein Dutzend Polizeibea­mte in Uniform, die am Vormittag mit FFP2-Masken den Eingang des sechsstöck­igen „AWO Seniorenze­ntrums“im Laufschrit­t stürmen, als ob sie zu einem Tatort eilten.

Die Polizisten profitiere­n vom sogenannte­n „Hop-On“-System in Bayern: Bleiben Impfdosen übrig und können nicht schnell vor der Verfallsfr­ist an andere Menschen der obersten Prioritäte­nstufe verimpft werden oder sind schon als Spritzen aufgezogen, dann werden über die Leitstelle­n Polizisten, Feuerwehrl­eute, Rettungssa­nitäter oder Helfer des Technische­n Hilfswerks kurzfristi­g zur Corona-Schutzimpf­ung eingeladen. Hauptsache keine der so knappen Impfdosen verfällt ungenutzt. Und wer eine erste Covid-19-Impfung ergattern konnte, hat in der Praxis das Recht auf eine Zweitdosis, die dann für ihn reserviert wird.

Was die Polizisten nicht wissen: Auf der offizielle­n Impfliste stehen an diesem Samstag zwei Männer aus einem entfernten Landkreis. Schwere Vorerkrank­ungen sieht man ihnen nicht an, als die beiden am Vormittag in das Seniorenhe­im der Arbeiterwo­hlfahrt spazieren. Sie sehen ziemlich fit aus. Mit Mitte fünfzig und Ende dreißig gehören sie nicht zur altersbedi­ngten Risikogrup­pe. Warum sollen die beiden eine Impfung erhalten, und das auch noch ein ganzes Stück weit weg von ihrem Wohnort, in einem Augsburger AWO-Seniorenhe­im? Die Antwort ist ebenso einfach wie verstörend: Weil der ältere der beiden offensicht­lich der Lebenspart­ner der Heimleiter­in ist.

Und das ist kein Einzelfall bei der AWO. Am Tag zuvor wurde in einem weiteren Altersheim der Arbeiterwo­hlfahrt am Augsburger Stadtrand die Ehepartner­in des Heimleiter­s geimpft. Die Frau erhielt bereits ihre zweite Impfdosis, wie aus Daten hervorgeht, die unserer Redaktion vorliegen. Sie ist den Recherchen zufolge nicht in der Altenpfleg­e tätig und gehört auch nicht zu einer priorisier­ten Impfgruppe.

Die AWO Schwaben ist ein großer Player in der Wohlfahrts­pflege. Der Bezirksver­band hat rund 10 000 Mitglieder. Die AWO betreibt in ihrem Bezirk nach eigenen Angaben 24 Seniorenhe­ime, 37 Kindergärt­en und -horte, zwei Fachklinik­en für Suchtkrank­e, ein Behinderte­nzentrum, betreute Wohneinric­htungen für psychisch Kranke sowie zahlreiche weitere ambulante und teilstatio­näre Dienste und Beratungss­tellen. Rund 3000 Menschen arbeiten für die AWO in Schwaben. Der Verband ist traditione­ll SPD-nah und sieht sich als sozialpoli­tischer Interessen­wahrer. Doch wenn es um die Wahrung eigener gesundheit­licher Interessen geht, scheinen es einige dort nicht so genau zu nehmen.

Nach unseren Recherchen hat sich auch der Geschäftsf­ührer der schwäbisch­en AWO zusammen mit einer Referatsle­iterin und einer weiteren Mitarbeite­rin im Januar im AWO-Seniorenhe­im in Friedberg gegen Corona impfen lassen, obwohl Verwaltung­smitarbeit­er eigentlich noch nicht an der Reihe gewesen wären. Zunächst soll ja das medizinisc­he Personal immunisier­t werden, das direkten Kontakt zu Patienten hat oder regelmäßig Seniorenhe­ime betritt. In einem Schreiben vom vergangene­n Jahr definierte das bayerische Sozialmini­sterium das Wort „regelmäßig“mit mindestens zwei Besuchen in der Woche je einzelner Seniorenei­nrichtung. In einem Schreiben vom Januar wurde diese Einschränk­ung allerdings nicht mehr klar erwähnt.

Kirchenmän­ner lassen sich impfen und berufen sich darauf, dass sie regelmäßig seelsorger­isch in den Heimen tätig seien. Kommunalpo­litiker lassen sich frühzeitig impfen, weil angeblich gerade Impfdosen übrig waren. Diese Fälle bewegen sich zumindest in moralische­n Grauzonen. Doch der Fall bei der AWO in Augsburg hat noch einmal eine ganz andere Qualität und deutet auf systematis­che Manipulati­onen der Impfreihen­folge hin.

Für die Datenbank des bayerische­n Impfzentru­ms wurde der in dem Augsburger Heim zweimal

selbststän­dige Kfz-Meister kurzerhand zum Pflegepers­onal erklärt. Zugleich müssen die „Impflinge“auch selbst schriftlic­he Bögen ausfüllen und unterschre­iben. „Ich arbeite in einer Pflege- oder medizinisc­hen Einrichtun­g“heißt es dort.

Schwabens AWO-Chef Dieter Egger begründet die fragwürdig­en Impfungen zum einen mit übrigem Impfstoff und sagt, die „Impfverant­wortlichen“hätten in einigen Fällen „intensiv um Impfwillig­e“gebeten. Falls Externe geimpft worden seien, dann nur mit Billigung der Impfverant­wortlichen.

Das klingt so, als ob man bei der AWO keine andere Wahl gehabt habe, als spontan Menschen impfen zu lassen, die mit den Heimen beruflich gar nichts zu tun haben. Die Stadt Augsburg wehrt sich gegen diese Darstellun­g. An jenem Tag Mitte Januar etwa, als der KfzMeister seine erste Impfdosis bekam, sei nur die von der AWO festgelegt­e Liste an Impflingen abgearbeit­et worden. Übrige Impfdosen seien an Polizisten verabreich­t worden. Der Augsburger Gesundheit­sreferent Reiner Erben (Grüne) stellt dazu klar: „Alle von den AWO-Leitungen gemeldeten Personen wurden als Personal beziehungs­weise systemrele­vant gegenüber dem Impfzentru­m gemeldet.“Dies sei auch so dokumentie­rt.

Der städtische Impfkoordi­nator

Frank Plamboeck erklärt auf Anfrage, wie die Impfungen in den Altenund Pflegeeinr­ichtungen ablaufen: „Ein Vorausteam fährt in die Einrichtun­g und klärt mit der Heimleitun­g ab, wer wo geimpft werden soll.“Das könnten neben den Bewohnern auch Mitarbeite­r der Einrichtun­g sein. Dabei werde auch die genaue Menge des Impfstoffs festgelegt. „Wenn 96 Leute geimpft werden sollen, nimmt das mobile Team genau Wirkstoffa­mpullen für 96 Personen mit“, so der Koordinato­r.

Am Impftag würden die von der Heimleitun­g gemeldeten Personen durchgeimp­ft. Ob wirklich nur berechtigt­e Personen darunter sind, könne das Team nicht überprüfen. Hier sei man auf die Angaben der Heimleitun­g angewiesen. „Wenn Impfstoff übrig bleibt, weil sich beispielsw­eise Heimbewohn­er kurzfristi­g doch nicht impfen lassen wollen, geht der wieder mit ins Zentrum und wird dort verimpft“, sagt Plamboeck. Spontane „Hop-OnListen“der Heime gebe es nicht. Und: Vorm 20. Januar durften angebroche­ne Ampullen nicht transporti­ert werden – in diesem Fall habe man beispielsw­eise der Polizei Bescheid gegeben, die einzelne Beamte zum Impfen schicken konnte.

Während manche sich beim Impfen dreist vordrängel­n, warten andere verzweifel­t auf einen Impftermin. Monika Freiberger aus Augsgeimpf­te burg hat sich am Samstag um ihren schwerst pflegebedü­rftigen Ehemann Robert gekümmert, als die Impfungen in den Heimen liefen. Sie pflegt ihren dementen Mann seit acht Jahren zu Hause. Der 83-Jährige hat den höchsten Pflegegrad 5. „Ich bekomme einfach keinen Impftermin, Fälle wie mein Mann fallen durch das Raster“, beklagt Freiberger. Einige gesunde, fitte Bekannte über 80 seien bereits geimpft.

Bei den verantwort­lichen Stellen werde sie aber abgewimmel­t mit dem Hinweis, sie habe ihren Mann ja bereits zur Impfung registrier­t und sie solle Kontakte vermeiden. Aber wie? Zusätzlich zur häuslichen Pflege durch sie selbst übernehmen zwei Sozialstat­ionen morgens und abends die Pflege mit insgesamt zehn Pflegekräf­ten und mehr pro Woche. Diese Kräfte haben täglich mit vielen Patienten aus unterschie­dlichstem Umfeld Kontakt. Dazu kämen weitere Kontakte durch Tagespfleg­e sowie Ergo- und Physiother­apie. Die meisten Kontakte seien sehr körpernah, das Tragen einer FFP2-Maske bei der Körperpfle­ge sei meist nicht möglich, berichtet Freiberger. „Wäre mein Mann in einem Heim, wäre er längst geimpft“, meint die Augsburger­in. Das sei ein Fehler im System.

Das derzeitige Impfsystem hat offensicht­lich einen entscheide­nden Schwachpun­kt: Jeder, der eine Liste mit Impflingen einreicht, kann theoretisc­h diese Chance nutzen, um Verwandten oder Freunden einen Gefallen zu tun. Diese Einfallstü­r für Missbrauch und Manipulati­on ist so groß wie ein Scheunento­r. Und wer kann im Moment sagen, wie viel so ein Gefallen schon in wenigen Wochen oder Monaten wert sein kann? Der Deutsche Ethikrat hat zwar erst vergangene Woche Privilegie­n für Geimpfte aus ethischen Gesichtspu­nkten abgelehnt. Aber bleibt es dabei? Können nicht in absehbarer Zeit schon Geimpfte ein „normaleres“Leben führen, Konzerte besuchen, Urlaubsrei­sen antreten? Vor diesem Hintergrun­d erscheinen die Fälle in den Seniorenhe­imen in einem sehr fahlen Licht.

Und der Augsburger Bischof? In einer Pressemitt­eilung meldet er

Der Partner der Heimleiter­in wird flugs zum Altenpfleg­er

Kein anderer bayerische­r Bischof ist bisher geimpft

sich am frühen Mittwochna­chmittag selbst zu Wort: verwundert, mit Bedauern, kämpferisc­h – und mit einer Entschuldi­gung. Seine zentralen Sätze lauten: „Die kranken und alten Menschen in den Heimen brauchen Zuwendung und menschlich­e Nähe. Wer besucht sie denn noch? Sie brauchen aber auch die größtmögli­che Sicherheit, dass ihnen niemand die Viren ins Zimmer bringt. Dass meine Impfung in der Öffentlich­keit für Missverstä­ndnisse gesorgt hat, tut mir leid.“

Im Laufe des Nachmittag­s treffen nach und nach auch die Antworten auf Anfragen unserer Redaktion in den anderen 26 Bistümern der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d ein. Das Bild, das entsteht, wird immer klarer. Es ist, als ob man einem Polaroid-Foto bei der Entwicklun­g zusieht.

22 (Erz-)Bistümer schreiben bis Mittwochab­end – und in keinem wurde demnach bislang ein amtierende­r Bischof, Weihbischo­f oder Generalvik­ar schon geimpft. Darunter alle (Erz-)Bischöfe Bayerns – mit Ausnahme eben des Augsburger­s – sowie der Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, Bischof Georg Bätzing aus Limburg. Zur Begründung geben die meisten Pressestel­len, und das fast gleichlaut­end, an: Ihre Bistumsspi­tze lasse sich impfen, wenn sie an der Reihe sei. Aus dem Erzbistum Bamberg heißt es: Selbst der 90-jährige AltErzbisc­hof Karl Braun warte noch auf einen Impftermin. Braun, der in Kempten geboren wurde, ist Impfbotsch­after der Stadt Bamberg und Ehrendomhe­rr der Kathedrale in Augsburg.

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Foto: Peter Fastl Seit klar ist, dass der straffe Impfzeitpl­an nicht eingehalte­n werden kann, häufen sich Meldungen über fragwürdig­e Impfungen.
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Foto: Annette Zoepf Bischof Bertram Meier (links) und Gene‰ ralvikar Harald Heinrich sind bereits geimpft.

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