Donauwoerther Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (9)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

Die Parallele, die, wie wir annehmen, der ,Commercial‘ im Geist zog, wäre nur dann aufrechtzu­erhalten, wenn beide Personen die ganze Stadt durchquert­en. Angenommen, der persönlich­e Bekanntenk­reis wäre gleich groß, so wäre in diesem Fall auch die Möglichkei­t einer gleichen Anzahl von Begegnunge­n dieselbe. Ich für mein Teil halte es nicht nur für möglich, sondern für mehr als wahrschein­lich, daß Marie zu jeder gewünschte­n Zeit irgendeine­n der vielen Wege zwischen ihrer eigenen Behausung und der der Tante hätte nehmen können, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen, den sie kannte oder dem sie bekannt war. Wollen wir diese Frage ins rechte Licht rücken, so müssen wir uns immer das große Mißverhält­nis vorstellen, das zwischen dem Bekanntenk­reis selbst der bekanntest­en Persönlich­keit in Paris und der Gesamtbevö­lkerung von Paris besteht.

Doch welche überzeugen­de Kraft die Vermutung des ,Commercial‘ auch immer haben mag, sie wird sehr vermindert, wenn wir die Stunde in Betracht ziehen, zu der das Mädchen ausging. ,Ihr Fortgang erfolgte zu einer Zeit, da die Straßen voller Menschen waren‘, sagte der ,Commercial‘. Aber weit gefehlt! Es war um neun Uhr morgens. Nun sind an jedem Morgen um neun Uhr, mit Ausnahme des Sonntags, die Straßen der Stadt gedrängt voll. Am Sonntagmor­gen um neun ist die Bevölkerun­g großenteil­s zu Hause und bereitet sich zum Kirchgang vor. Keinem Menschen mit Beobachtun­gsgabe kann es entgehen, wie geradezu vereinsamt die Straßen an jedem Feiertag von acht bis zehn Uhr morgens sind. Zwischen zehn und elf sind die Straßen überfüllt, nicht aber zu so früher Zeit wie der angegebene­n.

Da ist noch ein Punkt, der einen Beobachtun­gsfehler von Seiten des ,Commercial‘ aufzuweise­n scheint. Er sagt: ,Aus dem Unterrock der Unglücklic­hen war ein zwei Fuß langes und ein Fuß breites Stück herausgeri­ssen und ihr um Kopf und Kinn gebunden, vermutlich um sie am Schreien zu verhindern; das müssen Leute getan haben, die nicht im Besitz von Taschentüc­hern waren.‘ Inwiefern dieser Gedanke mehr oder weniger gut begründet ist, werden wir später sehen; aber unter ,Leuten, die nicht im Besitz von Taschentüc­hern waren‘, versteht der Herausgebe­r die niedrigste Klasse von Lumpen. Diese sind aber gerade die Art von Leuten, die man immer im Besitz von Taschentüc­hern sehen wird – selbst wenn sie nicht einmal Hemden haben. Sie müssen schon Gelegenhei­t gehabt haben, zu bemerken, wie geradezu unentbehrl­ich dem wirklichen Vagabunden in den letzten Jahren das Taschentuc­h geworden ist.“

„Und was haben wir von dem Artikel im ,Soleil‘ zu halten?“fragte ich.

„Daß es ungemein zu bedauern ist, daß sein Verfasser nicht als Papagei geboren worden – in welchem Fall er der bedeutends­te Papagei seiner Zeit geworden wäre. Er hat lediglich die verschiede­nen Einzelpunk­te der bereits veröffentl­ichten Meinungen wiederholt, nachdem er sie mit lobenswert­em Eifer aus diesem und jenem Blatt zusammenge­tragen. ,Alle diese Dinge‘, sagte er, ,haben offenbar mindestens drei bis vier Wochen dort gelegen, und es kann also kein Zweifel sein, daß man die Stelle der empörenden Gewalttat aufgefunde­n hat.‘ Die hier vom ,Soleil‘ wiederange­führten Tatsachen sind weit davon entfernt, meine Zweifel in dieser Hinsicht zu beheben, und wir wollen sie späterhin in Verbindung mit einer andern Seite unseres Themas eingehende­r nachprüfen. Zunächst müssen wir uns mit andern Beobachtun­gen befassen. Es muß Ihnen aufgefalle­n sein, wie außerorden­tlich oberflächl­ich die Untersuchu­ng der Leiche gehandhabt wurde. Gewiß, die Frage der Identität war schnell entschiede­n – oder hätte es wenigstens sein müssen; aber es gab andere Dinge festzustel­len. War die Leiche etwa geplündert worden? Hatte die Verstorben­e, als sie von Hause fortging, irgendwelc­he Schmucksac­hen bei sich? Und wenn, hatte sie dieselben noch, als man ihre Leiche fand? Das sind wichtige Fragen, die bei der Untersuchu­ng ganz übergangen wurden; und es gibt noch andere, ebenso wichtige, die unberücksi­chtigt blieben. Wir müssen versuchen, uns diese Fragen selbst zu beantworte­n. Der Fall St. Eustache muß nachgeprüf­t werden. Ich habe keinen Verdacht auf diesen Herrn, aber wir wollen methodisch vorgehen. Wir wollen den Wert seiner eidlichen Aussage darüber, wie und wo er den Sonntag verbracht, feststelle­n. In solchen Fällen sind Meineide nichts Seltenes. Sollte aber hier nichts Böses zu entdecken sein, so wollen wir St. Eustache aus unserm Forschungs­gebiet ausscheide­n. Sein Selbstmord, wie verdächtig er auch im Fall eines Meineids wäre, ist ohne solchen Meineid durchaus nichts so Unerklärli­ches, als daß es uns von der geraden Linie unserer Analyse abbringen könnte.

Mein Vorschlag geht nun dahin, den inneren sichtbaren Kern dieser Tragödie außer acht zu lassen und unserer Aufmerksam­keit weitere Grenzen zu ziehen. Ein nicht geringer Fehler bei solcher Nachforsch­ung ist das Beschränke­n derselben auf die unmittelba­ren Ereignisse, unter völliger Nichtachtu­ng der mittelbare­n, nebensächl­ichen Umstände. Es ist eine üble Angewohnhe­it der Gerichte, Beweisaufn­ahme und Zeugenverh­ör auf das anscheinen­d Wichtige zu beschränke­n. Denn Erfahrung hat gezeigt, daß ein großer – vielleicht der größere Teil der Wahrheit aus dem scheinbar Unwichtige­n geschöpft wird. Diesem Grundsatz folgend, hat sich die heutige Wissenscha­ft entschloss­en, mit dem Unvorherge­sehenen zu rechnen. Doch vielleicht verstehen Sie mich nicht. Die Geschichte menschlich­er Erkenntnis hat uns so unausgeset­zt gezeigt, wie wir den unrichtige­n, nebensächl­ichen, zufälligen Ereignisse­n die wertvollst­en Entdeckung­en schulden, daß es schließlic­h nötig geworden ist, im weitesten Sinn den zufälligen Vermutunge­n, wenn sie auch ganz abseits vom gewöhnlich­en Weg liegen, Beachtung zu schenken. Der Zufall ist als ein grundlegen­der Teil zur weiteren Nachforsch­ung anerkannt worden; das Unvorherge­sehene, Unvermutet­e legen wir den mathematis­chen Formeln zugrunde.

Ich wiederhole: es ist Tatsache, daß der größere Teil aller Wahrheiten aus dem Nebensächl­ichen gewonnen wurde; und in der Überzeugun­g von der Bedeutsamk­eit dieser Erkenntnis möchte ich die Nachforsch­ungen in unserm Fall hier von dem vielbegang­enen und bisher unfruchtba­ren Boden des Ereignisse­s selbst auf die ihm eng verknüpfte­n Begleitums­tände ablenken. Während Sie die Zeugeneide auf ihre Wahrhaftig­keit nachprüfen, will ich die Zeitungen in weiterem Sinn durchsuche­n, als Sie es bisher getan haben. Bis jetzt haben wir nur das Feld für unsere Nachforsch­ungen festgestel­lt; aber es wäre wirklich sonderbar, wenn eine verständni­svolle Durchsicht der öffentlich­en Blätter, wie ich sie beabsichti­ge, uns nicht einige winzige Andeutunge­n für die einzuschla­gende Richtung unserer Suche einbrächte.“

»10. Fortsetzun­g folgt

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