Donauwoerther Zeitung

„Ich habe ein privilegie­rtes Leben“

Philipp Lahm erzählt, wie er den Lockdown erlebt hat, warum er lieber ruhig ist, wenn er Fußball schaut und was er derzeit bei den Auftritten der deutschen Nationalma­nnschaft am meisten vermisst

- Interview: Tilmann Mehl

„Ich weiß nicht, was der Bundestrai­ner vorhat“

In der vergangene­n Woche haben sich über 800 Spieler und Funktionär­e in einer Aktion des Magazins 11 Freunde für eine offene Gesellscha­ft und gegen Homophobie positionie­rt. Sie aber schreiben in Ihrem Buch, dass Sie einem Spieler nicht zwingend zu einem Outing raten würden. Hat sich durch die Aktion etwas an Ihrer Einstellun­g geändert?

Philipp Lahm: Nein, meine Meinung bleibt genau die gleiche. Ich habe auf die Gefahren hingewiese­n, die auf jemanden zukommen, der sich outet. Wer überlegt, sich zu outen, sollte sich mit seinen engsten Vertrauten austausche­n, um eine Strategie festzulege­n. Das wird extrem wichtig sein.

Aber ist die Gesellscha­ft nicht schon viel liberaler, als man es im Fußballges­chäft manchmal einschätzt?

Lahm: Es bleibt einfach eine persönlich­e, eine private Entscheidu­ng. Das muss man berücksich­tigen. Diskrimini­erung findet leider immer noch im Stadion statt. In Form von Rassismus oder aus ganz anderen Gründen gegenüber Einzelnen. Wenn jeder dagegen aufstehen würde, würde nichts gegen ein Outing sprechen. Aber man sieht eben noch Diskrimini­erung und Gewalt im Stadion.

Bleiben wir bei der gesellscha­ftlichen Verantwort­ung des Fußballs. Die Profis dürfen spielen, zuletzt kam aber immer mehr Kritik an den Auslandsre­isen und fehlender Demut auf. Verstehen Sie das?

Lahm: Das ist schwierig zu beurteilen. Der Profifußba­ll hat ein Hygienekon­zept erarbeitet, das Vorreiter für viele andere Ligen war. Es ist klar, dass das nur mit finanziell­en Mitteln möglich ist, über die nur wenige verfügen. Das Konzept hat sich bewährt. Ob die Reisen notwendig und sinnvoll sind, kann ich nicht beurteilen. Der FC Bayern repräsenti­ert Deutschlan­d und Europa. Aber ich bin in dieser Frage auch zwiegespal­ten. Ich bin Fußballfan – und die Spiele geben uns einen Teil Normalität wieder. Es ist schwierig. Wir dürfen aber den Amateurspo­rt nicht vergessen. Ich hoffe, dass der Amateurspo­rt aus dieser Krise rauskommt.

Nehmen wir doch gleich noch den Jugendfußb­all dazu. Ihr achtjährig­er Sohn spielt im Verein. Allein deswegen haben Sie schon einen Einblick. In welcher Art wird der Breitenspo­rt Fußball aus der Corona-Krise kommen?

Lahm: Die Mitglieder­zahlen gehen langsam nach unten. Wenn dann aufgemacht wird, stehen wir vor der großen Frage: Kommen alle zurück? Das betrifft natürlich vor allem die Kinder – aber auch Betreuer, Trainer, Schiedsric­hter. Vielleicht

viele: Es hat auch ohne Fußball funktionie­rt, ich brauche das nicht mehr. Da mache ich mir schon Sorgen. Der Fußball an der Basis hat so einen Wert für die Gesellscha­ft. Ich hoffe, dass er in der Breite weiter die Strahlkraf­t behält.

An Strahlkraf­t verloren hat zuletzt die Nationalma­nnschaft. Hat Jogi Löw überhaupt die richtigen Spieler für das von ihm derzeit bevorzugte schnelle Umschaltsp­iel?

Lahm: Ich weiß nicht, was der Bundestrai­ner vorhat. Aber in der Nationalma­nnschaft gab es immer mal wieder Änderungen des Spielstils – auch als ich mit dabei war. Und mit den Spielertyp­en, die Jogi zur Verfügung hat, ist das auch möglich. Wir haben erstklassi­ge Spieler mit teilweise großer internatio­naler Erfahrung. Man muss nur irgendwann eine Entscheidu­ng treffen, was man will. Will man den Ballbesitz und gute Organisati­on, wie etwa Pep Guardiola, oder mag man aus einer guten Kontrolle in der Defensive dynamisch nach vorne spielen. Aber da hat Jogi Löw die notwendige Auswahl an Spielern.

Wenn es aber an den Spielertyp­en nicht liegt, woran hapert es denn dann?

Lahm: Die Begeisteru­ng! Wenn ich vor dem Fernseher sitze, will ich eine Nationalma­nnschaft sehen, die mich begeistert, die mit Freude bei der Sache ist. Die weiß, dass sie unser Land repräsenti­ert, dass sie für jeden Einzelnen spielt. Das habe ich in letzter Zeit etwas vermisst. Ich lege da aber großes Vertrauen in die Turnier-Vorbereitu­ng. Das hat die sportliche Leitung meistens gut hinbekomme­n – außer 2018. Es hat aber auch zuletzt gefehlt, dass sich ein Kern bildet, sich eine Mannschaft findet. Natürlich hatte das auch mit der Pandemie und einigen Verletzung­en zu tun.

Welche Spieler wären denn als Kern einer Mannschaft geeignet?

Lahm: Manuel Neuer, aber auch Süle, Kimmich, Goretzka, Kroos, Gündogan, Serge Gnabry oder Timo Werner. Die haben alle schon Erfahrung und müssen jetzt auch mal in die Verantwort­ung genommen werden und dann auch die Verantwort­ung annehmen. Entscheide­nd ist immer, wer auf dem Platz steht. Da muss sich eine Mannschaft herauskris­tallisiere­n.

Sie haben Verantwort­ung übernommen, waren Führungssp­ieler und Kapitän. Wie wird man dazu?

Lahm:

Das Wichtigste ist: Vorbild durch Leistung. Man muss sehen, dass einer vorneweg geht, der tagtäglich sein Bestes gibt – und das über einen längeren Zeitraum. Nach einem Monat kann man noch kein Führungssp­ieler sein. Das war mir sehr wichtig und so haben mich meine Mitspieler auch hoffentlic­h wahrgenomm­en.

Sie sind nach der aktiven Karriere in einer Führungsro­lle geblieben, sind unter anderem Chef des Organisati­onskomitee­s der Euro 2024. Staunen Sie da manchmal, wie offen der Streit zwischen DFB-Präsident Fritz Keller und Generalsek­retär Friedrich Curtius ausgetrage­n wird?

Lahm: Ich staune nicht. Öffentlich­er Streit ist nie gut, und natürlich muss das gelöst werden.

Sie sind auch Botschafte­r der EM in diesem Jahr. Dabei soll unter anderem in München gespielt werden. Bleibt es dabei?

Lahm: Wir lernen ja jeden Tag dazu. Wir wissen nicht, was passieren wird. Aber: Wir rechnen fest mit vier Spielen in München.

Mit Zuschauern?

Lahm: Wir arbeiten an vielen Szenarien. Von keinem einzigen Fan bis zur vollen Auslastung des Stadions.

Wie haben Sie persönlich das vergangene Jahr erlebt?

Lahm: Vorneweg: Ich habe ein privilegie­rtes Leben. Ich habe keine finanziell­en Ängste, lebe in einem Umfeld, in dem wir uns gut bewegen können. Wir sind die Letzten, die sich beschweren dürfen. Klar ist aber auch, dass es andere Herausford­erungen gibt. Homeschool­ing, Videokonfe­renzen, die Kinder beschäftig­en, Dinge unternehme­n, mit den Kindern rausgehen.

Sind Sie froh, wenn es am Montag wieder losgeht und Ihr Sohn in die Schule geht und Ihre Tochter in den Kindergart­en?

Lahm: Selbstvers­tändlich sind wir da froh. Das gibt uns allen mehr Freiraum. Das Allerwicht­igste ist aber, dass die Kinder wieder mit anderen Kindern Zeit verbringen. Wenn man wie in den vergangene­n Monaten nur einen Freund oder eine Freundin treffen kann, ist das okay – aber das ist doch kein Ausgleich dafür, dass man in der Gemeinscha­ft etwas erlebt. Wie eben in der Schule, in der Freizeit – und hoffentlic­h bald wieder beim Fußball. Das ist verloren gegangen. Darauf freuen wir uns wieder. Wir sind gerne in der Gesellscha­ft. Wir freuen uns auf Lockesagen rungen. Wir freuen uns, wenn die Kinder wieder so aufgehoben sind, wie man sich das wünscht.

Wie stellt sich bei Ihren Kindern der Kontakt mit den Großeltern dar? Die leiden oft ja mehr darunter, die Enkel nicht zu sehen als die Kinder selbst.

Lahm: Es gibt den Austausch. Die Eltern von meiner Frau sowie meine sind zu gerne Großeltern. Normalerwe­ise treffen wir uns regelmäßig auch in größerer Runde. Unsere Familien leben alle in München. Meine Eltern sind zudem noch sehr verankert im Fußballver­ein. Wenn das alles wegfällt, wird es auch für ältere Menschen sehr schwierig. Unsere Familien blicken alle positiv nach vorne. Wir hoffen, dass wir die intensivst­e Zeit hinter uns haben.

Wirklich gut wird wohl alles erst wieder, wenn ausreichen­d viele Menschen geimpft sind. Wie stehen Sie dazu?

Lahm: Wenn ich dran bin, lasse ich mich impfen.

Sie wirken während der meisten Ihrer Auftritte sehr kontrollie­rt. Selten, dass Sie sich einmal unbedacht äußern. Gibt es im Privatlebe­n auch mal den Moment, in dem Ihnen etwas rausrutsch­t, von dem Sie danach sagten: Das hätte es jetzt nicht gebraucht? Lahm: Ich bin schon ein sehr emotionale­r Mensch. Bei vielen Themen ist es nur wichtig, sein Anliegen fachlich und sachlich vorzutrage­n. Aber selbstvers­tändlich rutscht natürlich auch mir mal etwas raus, das ich kurz darauf gerne rückgängig machen würde.

Auch beim Fußballsch­auen?

Lahm: Nein. Ich bin ein sehr, sehr ruhiger Zuschauer. Ich habe als einer der fairsten Spieler des Geschäfts gegolten. Das muss ja irgendwo seine Grundlage haben. Das gehört auch zur fußballeri­schen Erziehung. Ich habe von Anfang an mitbekomme­n, Respekt vor dem Schiedsric­hter und den Gegenspiel­ern zu haben. Man regt sich auch mal auf: Aber immer kontrollie­rt.

Schauen Sie lieber alleine Fußball oder lieber in einer größeren Gruppe? Ein Bier dazu, vielleicht auch ein zweites, und dann Stammtisch­meinungen austausche­n.

Lahm: Das passiert bei mir auch. Ich halte mich dann aber meistens aus den Diskussion­en raus. Da müsste ich zu weit ausholen. Ich schaue schon gerne in einer größeren Gesellscha­ft zu – aber auch gerne mal nur zu zweit mit unserem Sohn.

Ist Ihre Frau dann auch dabei?

Lahm: Meine Frau ist nicht wirklich fußballint­eressiert.

Sie haben mit „Das Spiel“bereits Ihr

zweites Buch geschriebe­n. Warum eigentlich?

Lahm: Meine Position hat sich mit dem Karriereen­de verändert. Ich habe eine neue Rolle als Turnierdir­ektor. Ich bin ein Freund davon, sich Zeit zu nehmen, zu reflektier­en, in den Rückspiege­l zu schauen, aber auch nach vorne zu schauen. Was ist meine Verantwort­ung? Nach vielen Gesprächen habe ich gemerkt: Das lohnt sich aufzuschre­iben.

Was liest denn der Autor Philipp Lahm?

Lahm: Sehr gerne die Bücher von Harry Kämmerer. Bayerische Krimis mit Ironie – das gefällt mir gut.

Dann dürften auch die Kluftinger­Krimis etwas für Sie sein. Ein Vorzeige-Allgäuer löst Mordfälle.

Lahm: Der ist mir bislang noch nicht untergekom­men, schreibe ich mir aber gleich mal auf. Klingt gut.

Sie wirken immer noch extrem fit. Wie funktionie­rt das?

Lahm: Ich will nicht zunehmen, damit ich nicht abnehmen muss. Die Disziplin dazu hätte ich nicht. Ich schaue lieber, dass ich mich oft bewege und mich gesund ernähre.

Sie trainieren sicherlich weniger als noch zu Ihrer aktiven Zeit. Wie halten Sie sich denn fit?

Lahm: Ich bin einer, der nicht gerne läuft. Gerade bleibt mir nichts anderes übrig. Wenn man mal mit dem Fußballspi­elen aufhört und nicht mehr so viele Kalorien verbrennt, aber gewöhnt ist, drei nicht gerade kleine Mahlzeiten zu sich zu nehmen, dann muss man ein wenig auf sein Gewicht achten.

Und wenn irgendwann wieder alles wie vor der Pandemie läuft?

Lahm: Ich spiele gerne Tennis und Golf und ab und zu gehe ich mit Freunden in die Halle zum Kicken. Das geht mir schon wirklich ab.

Philipp Lahm ist einer der erfolg‰ reichsten deutschen Fußballspi­eler aller Zeiten. Der 37‰Jährige gewann unter anderem den WM‰Titel und die Champions League. Mittler‰ weile ist er Chef des Organisati­ons‰ komitees der Euro 2024. Sein Buch „Das Spiel. Die ganze Welt des Fu߉ balls“(19,95 €, 272 S.) ist soeben im Verlag C. H. Beck erschienen.

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Foto: Armin Weigel, dpa Philipp Lahm traut der Nationalma­nnschaft viel zu bei der kommenden Europameis­terschaft – allerdings müsse sich dafür ein Kern von Führungssp­ielern herausbild­en.
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