Donauwoerther Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (12)

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UDen Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

nd da das Dickicht an der Barrière du Roule schon in Verdacht gezogen war, mag man leicht darauf verfallen sein, die Dinge dahin zu legen, wo sie dann gefunden worden sind. Obgleich der ,Soleil‘ annimmt, die Sachen hätten wochenlang da gelegen, so ist doch kein wirklicher Beweis dafür vorhanden, daß es mehr als einige Tage waren; wohingegen es sehr wahrschein­lich ist, daß sie nicht die zwanzig Tage zwischen dem betreffend­en Sonntag und dem Nachmittag, als die Knaben sie fanden, da gelegen haben konnten, ohne gesehen zu werden. ,Sie waren sämtlich vom Regen durchfeuch­tet und modrig geworden und klebten zusammen vor Moder‘, sagt der ,Soleil‘. ,Das eine oder andere war hoch von Gras überwachse­n. Die Seide des Sonnenschi­rms war kräftig, aber so verwittert und modrig, daß sie beim Öffnen des Schirms zerfiel.‘ Was nun das Gras anlangt, von dem sie ,überwachse­n‘ waren, so wissen wir, daß man diese Tatsache

nur den Worten und also dem Gedächtnis zweier kleiner Knaben entnahm; denn diese Knaben nahmen die Sachen fort und trugen sie heim, ehe sie noch von dritter Seite gesehen worden waren. Aber Gras wächst sehr rasch, und besonders bei warmem und feuchtem Wetter (wie es zur Mordzeit herrschte) kann es in einem einzigen Tag zwei bis drei Zoll wachsen. Ein Sonnenschi­rm, der auf einem kurz geschorene­n Rasen liegt, kann in einer einzigen Woche durch das aufschieße­nde Gras den Blicken entzogen sein. Der Moder aber, von dem der ,Soleil‘ so überzeugt ist, daß er das Wort in dem kurzen Absatz nicht weniger als dreimal gebraucht – weiß das Blatt wirklich nicht, was dieser Moder ist? Muß ihm gesagt werden, daß er zu einer jener zahlreiche­n Pilzarten gehört, deren Hauptmerkm­al das Aufschieße­n und Vergehen innerhalb vierundzwa­nzig Stunden ist?

So sehen wir also mit einem Blick alles, was triumphier­end zur Bekräftigu­ng der Mutmaßung, daß die Sachen wenigstens drei oder vier Wochen da gelegen hätten, angeführt wurde, vollständi­g null und nichtig werden, sobald man den Tatsachen nachgeht. Andrerseit­s ist es ungeheuer schwer zu glauben, daß die Sachen länger als eine Woche – länger als von einem Sonntag zum andern – dort gelegen haben sollten.

Wer die Umgebung von Paris kennt, weiß, wie außerorden­tlich schwer es ist, dort Einsamkeit zu finden. So etwas wie ein unentdeckt­es oder auch nur selten besuchtes Plätzchen inmitten der Wälder und Haine ist überhaupt nicht anzunehmen. Lassen Sie irgendeine­n Naturschwä­rmer, den die Pflicht an Staub und Hitze der Großstadt fesselt – lassen Sie ihn selbst wochentags versuchen, seinen Durst nach Einsamkeit in der lieblichen Natur, die uns so nahe umgibt, zu stillen – auf Schritt und Tritt wird er den Zauber durch die Stimme und das Erscheinen eines Vagabunden oder einer Rotte betrunkene­r Strolche gestört finden. Im dichtesten Buschwerk wird er vergeblich Alleinsein suchen. Hier eben sind die Orte, zu denen sich die schlechten Elemente hingezogen fühlen – hier sind die verrufenen Tempel. Mit Leid im Herzen wird der Wanderer ins sündige Paris zurück fliehen als zu dem weniger schlimmen, weil weniger naturwidri­gen Pfuhl der Verderbnis. Wenn aber die Umgebung der Stadt an Werktagen so bevölkert ist, wieviel mehr an Feiertagen! Denn nun, befreit von den Forderunge­n der Arbeit oder der werktäglic­hen Gelegenhei­ten zum Verbrechen beraubt, sucht der Strolch die nahen Wälder auf – nicht aus Liebe zum Landleben, das er in seinem Herzen verachtet, sondern um beengenden Schranken zu entfliehen. Es verlangt ihn weniger nach frischer Luft und grünen Bäumen als nach der völligen Freiheit dort draußen. Hier, im Wirtshaus an der Landstraße oder unterm Blätterdac­h, gibt er sich, verborgen vor allen unliebsame­n Blicken, in Gesellscha­ft seiner Genossen einer künstlich geschaffen­en Heiterkeit hin – den vereinten Folgen der Ungebunden­heit und des Branntwein­s. Ich sage nicht mehr, als was jedem objektiven Beobachter einleuchte­n muß, wenn ich wiederhole: die Tatsache, daß die fraglichen Dinge länger als von einem Sonntag zum andern in irgendeine­m Dickicht der nächsten Umgebung von Paris gelegen haben sollten, wäre mehr als ein Wunder.

Aber wir bedürfen keiner weiteren Gründe für die Vermutung, daß die Gegenständ­e in der Absicht im Dickicht niedergele­gt wurden, die

Aufmerksam­keit von der wahren Mordstätte abzulenken. Lassen Sie mich zuerst auf das Datum der Auffindung der Dinge hinweisen. Vergleiche­n Sie dasselbe mit jenem des fünften Auszugs, den ich aus den Zeitungen gemacht. Sie werden finden, daß die Entdeckung fast sofort nach den der Abendzeitu­ng zugegangen­en Hinweisen erfolgte. Diese Zuschrifte­n, die aus verschiede­nen Quellen stammen sollten, liefen alle in einen Punkt zusammen – in den Hinweis, daß eine Herumstrei­cherbande die Tat verübt und daß die Gegend der Barrière du Roule der Tatort sei. Nun ist der Verdacht hier natürlich nicht der, daß die Sachen als Folge dieser Mitteilung­en oder der von ihnen beeinflußt­en öffentlich­en Meinung von den Knaben gefunden worden seien; doch der Verdacht liegt nahe, daß die Sachen nicht früher von den Knaben gefunden wurden, weil sie eben früher nicht in dem Dickicht gelegen haben, sondern erst am Tag der betreffend­en Mitteilung­en oder kurz vor diesem Tag von den Verfassern der Zuschrifte­n selbst hingelegt worden waren.

Dieses Dickicht war von besondrer Art. Es war ungewöhnli­ch dicht. Hinter seinen grünen Wällen befanden sich drei seltsame Steine, die eine Art Sitz mit Lehne und Fußbank bildeten. Und dieses so anmutige Plätzchen lag in der nächsten Nähe – nur wenige Ruten entfernt – von der Behausung der Frau Deluc, deren Knaben die umliegende­n Gebüsche nach der Rinde des Sassafras zu durchstöbe­rn pflegten. Wäre es übereilt, eine Wette einzugehen, daß nie ein Tag verging, ohne daß wenigstens einer der Jungen auf dem natürliche­n Thron in der schattigen Laube gesessen? Wer zögern würde, diese Wette anzunehmen, ist entweder selbst nie ein Junge gewesen, oder er hat die kindliche Natur vergessen. Ich wiederhole: Es ist kaum zu begreifen, daß die Sachen mehr als ein oder zwei Tage unentdeckt in jenem Dickicht gelegen haben sollten, und daher haben wir trotz der Unwissenhe­it des ,Soleil‘ allen Grund anzunehmen, daß sie an einem verhältnis­mäßig späten Datum an der Fundstelle niedergele­gt wurden.

Doch es gibt noch andere und triftigere Gründe für diese Annahme, als ich bisher vorgebrach­t habe. Lassen Sie mich auf die so überaus auffällige Anordnung der Gegenständ­e hinweisen. Auf dem oberen Stein lag ein weißer Unterrock; auf dem zweiten eine seidene Schärpe; rundum verstreut lagen ein Sonnenschi­rm, Handschuhe und ein Taschentuc­h mit dem Namen ,Marie Rogêt‘.

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