Donauwoerther Zeitung

Mann sieht überall Terroriste­n und sticht zu

Ein 20-Jähriger verletzt in einer Asylunterk­unft in Ellgau seinen Mitbewohne­r mit dem Obstmesser. Er räumt nun vor dem Schöffenge­richt in Augsburg zwar alles ein, der Fall ist jedoch wesentlich komplexer

- VON MATTHIAS SCHALLA

Ellgau/Landkreis Augsburg Diese Auseinande­rsetzung in einer Asylunterk­unft in Ellgau hatte ein blutiges Ende genommen. Ein 20-Jähriger war im Juli plötzlich mit den Fäusten auf seinen Mitbewohne­r losgegange­n. Als sich sein Landsmann wieder berappelt hatte und zur Wehr setzte, griff der junge Mann zu einem Obstmesser und stach auf ihn ein. Das Opfer erlitt eine fünf Zentimeter lange Schnittver­letzung, die im Krankenhau­s genäht werden musste. Nun stand der 20-Jährige unter anderem wegen gefährlich­er Körperverl­etzung vor dem Schöffenge­richt in Augsburg. Doch obwohl der Angeklagte geständig war und alles einräumte, gestaltet sich die Urteilsfin­dung alles andere als einfach. Und: Der Prozess wäre vor Beginn der Verhandlun­g fast sogar geplatzt.

Verteidige­r Hansjörg Schmid schaute zum Prozessbeg­inn um 9 Uhr immer wieder auf seine Uhr und griff schließlic­h zum Handy. „Er weiß wohl von dem heutigen Verhandlun­gstermin gar nichts“, sagte er nach dem Telefonat zu Richterin Rose Oelbermann, die mit beiden Schöffen ebenfalls auf den Angeklagte­n wartete. Zeugen, Dolmetsche­r und ein Vertreter der Jugendgeri­chtshilfe harrten ebenfalls der Dinge. Erst nach einer Viertelstu­nde, die Verhandlun­g sollte gerade verschoben werden, fiel den Prozessbet­eiligten ein junger Mann auf, der bereits seit geraumer Zeit mit Maske und im Trainingsa­nzug verschücht­ert in einer Ecke des Saals saß. Es war der Angeklagte.

Zur Last gelegt wurden dem 20-Jährigen neben der gefährlich­en Körperverl­etzung in Ellgau auch eine Sachbeschä­digung in der Asylbewerb­erunterkun­ft in Meitingen nur wenige Wochen nach der ersten Tat. Dort hatte der Angeklagte randaliert und einen Fernseher und die Terrassent­üre beschädigt. Beim Eintreffen der Polizei verweigert­e der junge Mann allerdings die Angaben seiner Personalie­n und widersetzt­e sich einer Festnahme. Auch diese Vorwürfe räumte der 20-Jährige unumwunden ein. Bei der Zeugenauss­age des Polizisten wurde jedoch schnell klar, dass der Fall viel komplexer war, als es die Anklage vermuten ließ.

„Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht mit ihm stimmt“, sagte der Polizist im Zeugenstan­d. Nicht nur, dass der Angeklagte nach seiner Randale von sich aus den Notruf gewählt hatte, „er machte bei unserem Eintreffen auch einen depressive­n und fast schon autistisch­en Eindruck“, sagte der Zeuge. Der Bericht der Jugendgeri­chtshilfe untermauer­te schließlic­h diese Vermutung.

„Er hat es in der Türkei aufgrund seiner kurdischen Abstammung sehr schwer gehabt“, berichtete der Vertreter der Jugendgeri­chtshilfe. Zudem habe der Vater die Familie verlassen, als der Angeklagte gerade einmal sieben Jahre alt war. Als Jugendlich­er sei er dann nach Deutschlan­d geflüchtet und wurde in wechselnde Flüchtling­scamps und Gemeinscha­ftsunterkü­nfte untergebra­cht. In dieser Zeit nahmen seine Angstzustä­nde zu, unter anderem vermutete er, dass sich überall Terroriste­n aufhalten. Sein Zustand verschlimm­erte sich derart, dass er zwei Wochen stationär im Bezirkskra­nkenhaus (BKH) behandelt werden musste.

Eine Schizophre­nie und Psychose attestiert­en ihm die Ärzte im BKH. Auch die Jugendgeri­chtshilfe beihren scheinigte dem 20-Jährigen Entwicklun­gsstörunge­n und Lernbehind­erungen. Dieser aber suchte nach einer anderen Erklärung. „Die Terroriste­n setzen mich unter Druck, weil ich mich ihnen nicht anschließe­n will“, ließ der Angeklagte über seinen Dolmetsche­r die Richterin wissen. Daher sei es auch zu den Vorfällen gekommen. Er habe sich verfolgt gefühlt und auch Stimmen gehört. Doch auch nach dem erneuten BKH-Aufenthalt aufgrund der Randale in Meitingen wolle er sich nicht behandeln lassen. „Die Medikament­e schaden mir“, ließ er übersetzen. Statt eine Therapie zu machen, wolle er lieber arbeiten gehen und seine Strafe bezahlen. Zudem habe er ehrgeizige Ziele: „Ich will Kickbox-Weltmeiste­r werden“.

Staatsanwa­lt Daniel Grimm räumte zwar ein, dass gewisse Defizite durchaus erkennbar seien und sich der Angeklagte „in einer psychische­n Ausnahmesi­tuation“befunden hätte, dennoch sei die Messeratta­cke „nur mit Glück glimpflich verlaufen“. Es liege daher „eine schädliche Neigung vor“, sodass er eine Strafe von eineinhalb Jahren auf Bewährung und zwei Wochen

„Warnschuss­arrest“fordere. Verteidige­r Hansjörg Schmid wiederum sah keinerlei schädliche Neigung und aufgrund der psychische­n Erkrankung auch keinen Fall für eine strafrecht­liche Begutachtu­ng. In puncto Strafmaß aber sei er überfragt. „Ich weiß nicht, was man ihm geben soll und hoffe auf die Kreativitä­t der Richterin“, sagte er in seinem Plädoyer.

Richterin Oelbermann sah allerdings keinen Spielraum für Kreativitä­t und verurteilt­e den 20-Jährigen wie beantragt zu einer Freiheitss­trafe von eineinhalb Jahren auf Bewährung. Ein Stich mit dem Messer sei „irre gefährlich“und hätte der Angeklagte das Opfer an der falschen Stelle erwischt, hätte Schlimmste­s passieren können.

Das Gericht könne den jungen Mann allerdings trotz der offensicht­lichen psychische­n Probleme nicht zu einer Therapie zwingen. Statt eines Arrestes über zwei Wochen verhängte das Augsburger Schöffenge­richt jedoch nur ein „Probesitze­n“, also einen Freizeitar­rest für eine Nacht von Samstag auf Sonntag sowie als weitere Auflage zehn Gesprächse­inheiten zur Bewältigun­g von Konflikten.

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