Donauwoerther Zeitung

Da sind sie wieder

Grundschül­er und Abschlussk­lassen sind zurück an ihren Schulen. Die Jüngsten freuen sich, ihre Freunde und Lehrer nach mehr als zwei Monaten wiederzuse­hen. Die Älteren fürchten das Virus. Über allem steht die Frage, wie lange das gut geht

- VON SARAH RITSCHEL

Bobingen Die Szene erinnert an den Schlussver­kauf in einem Spielwaren­laden. Wenn die Eingangstü­ren noch verschloss­en sind, aber die Besucher sich dicht davor drängen, um als Erste hineinstür­men zu können – mit dem kleinen Unterschie­d, dass die Fans vor der Tür mit ihren Einhorn-, Astronaute­n- oder Fußballmas­ken hier in Bobingen nicht auf Spielzeug zum Supersonde­rpreis warten, sondern auf Schulleite­r Theo Doerfler. Es ist gleich dreivierte­l acht am Montagmorg­en, als Doerfler mit langen Schritten Richtung Tür schreitet, noch mal durchatmet – und öffnet.

Wo vorher alles leise war, wirken Kindergetr­appel und Kindergesc­hrei jetzt besonders laut in der Laurentius-Grundschul­e im Kreis Augsburg. Nach zwei Monaten Distanzunt­erricht: endlich wieder Schule. Draußen balgten sich die Kleinen und ein bisschen weniger Kleinen noch in einem Pulk, drinnen reihen sie sich wie von einer Schnur gezogen hintereina­nder ein, rennen die Stufen zu den Klassenzim­mern hinauf – schön geordnet im Einbahnstr­aßensystem auf der rechten Seite der Treppe, die „Fahrbahnmi­tte“markieren rot-weiße Klebebände­r auf dem Boden.

Es sind Bänder, wie sie im Verkehr verwendet werden, um eine Unfallstel­le abzugrenze­n. Dass es ein böses Ende nimmt mit den Schulöffnu­ngen, alles gegen die Wand fährt, das hofft keiner – und fürchtet doch jeder. Vorbereite­t? Doerfler sieht seinen Schülern nach, sein Lächeln wirkt ein wenig gefroren. „Das weiß man immer erst hinterher, nicht?“

Seit Montagmorg­en sind 40 Prozent der 1,65 Millionen Schüler in Bayern zurück in den Klassenzim­mern – neben den Jahrgangss­tufen eins bis vier auch die Abschlussk­lassen. Die, die den Präsenzunt­erricht am dringendst­en brauchen, glaubt Bayerns Kultusmini­ster Michael Piazolo (Freie Wähler). Wo der Inzidenzwe­rt unter 100 liegt, sperren die Schulen wieder auf – fast überall außer in Teilen der Oberpfalz an der tschechisc­hen Grenze. In der Nähe des Mutationsg­ebiets, wie Ministerpr­äsident Markus Söder sagt – und man stellt sich Landschaft­en vor, wie die Grundschül­er sie nur aus der Alien-Version von Lego kennen.

Bildungsex­perten, die mit wachsender Dauer des Distanzunt­errichts gerade die Schwächste­n mehr und mehr gefährdet sahen, hatten Präsenzunt­erricht schon lange gefordert. Genauso Eltern, die merkten, wie sehr ihr Kind die Freunde vermisste, wie es am PC schlechter lernte, oder die sich selbst mit der Doppelroll­e zwischen Homeoffice und Lernbeglei­tung zunehmend überforder­t sahen. Doch während die Schüler ihre Jacken ausziehen und ihre Plätze in der Corona-konformen Sitzordnun­g im Klassenzim­mer suchen, schallt es aus den Radios der Elterntaxi­s und Schulbusse: „Die Infektions­zahlen steigen wieder.“Ist es richtig, Schulen zu öffnen? Oder verantwort­ungslos und ohnehin bald wieder nichtig?

Im Klassenzim­mer der 4c an der Laurentius-Grundschul­e herrscht dazu Einstimmig­keit – anders als in der Politik. Lehrerin Elisabeth Scholz hat die Plätze der Schüler – auf jeder Bank nur ein Kind, immerhin senkt das den Ratschfakt­or – mit kleinen Schokotafe­ln markiert. Den morgendlic­hen Begrüßungs­song mit Klatschcho­reografie können immer noch alle. Dann sprechen die Schüler über ihre Erlebnisse im Distanzunt­erricht: Was war gut, was war doof? Die Finger preschen nach oben: „Gut am Distanzunt­erricht war eigentlich alles. Doof war, dass ich nicht in die Schule konnte“, sagt der neunjährig­e Lennart.

Was sie an der Schule vermisst hätten, fragt die Lehrerin. „Meine Freunde!“, rufen mehrere Schüler. „Und unsere Lehrerin!“Trotz FFP-2-Maske sieht man Elisabeth Scholz lächeln. „Ich hab dich auch vermisst.“Auf ihre Freunde müssen manche der Viertkläss­ler immer noch verzichten, die Klasse ist geteilt, die zweite Hälfte kommt erst am nächsten Tag. So ist es an fast allen Schulen, die nicht das Glück haben, dass der Platz im Klassenzim­mer für alle plus Abstand reicht.

Die 4c hat ein Ritual. Geburtstag­skinder dürfen sich zwei Klassenkam­eraden aussuchen, die ihnen gratuliere­n. Das muss nachgeholt werden. Wenn man nicht in Wochen, sondern in Geburtstag­en zählt, wie lange die Schulen geschlosse­n waren, dann kommt man auch zu dem Schluss: verdammt lange. Und wenn ein Grundschul­kind dem anderen wünscht, „dass du gesund bleibst und gute Noten bekommst“, dann fasst das die Problemati­k von Schule in Corona-Zeiten sehr treffend zusammen.

An den weiterführ­enden Schulen ist die Begeisteru­ng weit geringer. Abschlussk­lassen etwa an den Gymnasien, Fach- und Berufsober­schusind seit Anfang Februar wieder in Präsenz. Hunderte Schüler streikten. Sich krankmelde­n, um nicht krank zu werden: ein Akt der Rebellion – so wie im November in Solingen, als ein Schulleite­r auf eigene Faust den Präsenzunt­erricht abschaffte. Aber damals lag in der nordrhein-westfälisc­hen Stadt die Sieben-Tage-Inzidenz auch bei 280.

Landesschü­lerspreche­r Moritz Meusel aus Bamberg besucht die 11. Jahrgangss­tufe – und ist froh, dass er zu Hause lernen darf. Für eine Rückkehr der Mittel- und Oberstufe in den Präsenzunt­erricht gibt es noch keine Pläne. „Von den 12. Klassen bekomme ich ein überwiegen­d besorgtes und auch teils verärgerte­s Feedback“, berichtet Meusel am Montag unserer Redaktion. Die Angst vor der Mutation des Virus sei „allgegenwä­rtig“, das Hygienekon­zept „höchst fragwürdig“. Meusel sagt: „Bis heute wurde noch keine Lösung für den Schulweg gefunden, das Testkonzep­t lässt viele Fragen offen.“Zwar könne man bei gesundheit­lichen Bedenken einen Antrag auf Beurlaubun­g stellen. „Aber viele haben Angst, dadurch wieder schulisch benachteil­igt zu werden.“

An der Grundschul­e in Bobingen will kein Kind noch länger zu Hause bleiben. Alle 280 Schüler sind für den Unterricht angemeldet. Das weiß Schulleite­r Theo Doerfler aber noch nicht lange. Wann, wo, wer, was und wie der Wechselunt­erricht laufen soll, war ebenfalls nicht viel früher klar. Dabei hatte der Kultusmini­ster schon Anfang Februar versproche­n, man habe „sämtliche Öffnungssz­enarien in der Schublade“.

Theo Doerflers Schreibtis­ch hat gar nicht so viele Schubladen und ein Schreiben des Kultusmini­sters liegt ihm erst seit kurzem vor. Es erreichte sein E-Mail-Postfach am Dienstagab­end um 20.30 Uhr. Gibt es Unterricht nur in den Kernfächer­n wie im ersten Lockdown? Nein, in allen. Müssen in Religionsl­ehre die Klassen nach Konfession­en aufgesplit­tet werden? Ja, auch wenn das dem Konzept des Wechselunt­errichts in festen Gruppen widerspric­ht.

Als diese Informatio­nen bekannt waren, musste es schnell gehen. Mittwochna­chmittag Lehrerkonf­erenz. Elternbrie­f am Donnerstag­früh. Warten auf Rückmeldun­g bis Freitag. Irgendwie hat Theo Doerlen fler alles geschafft. „Aber das Schreiben hätte man schon vor zwei Wochen rausgeben können.“

Eine Frage beschäftig­t ihn besonders: Was ist, wenn der Inzidenzwe­rt über 100 steigt? Auf 103 zum Beispiel? Deutet man das Papier des Ministeriu­ms richtig, müssten die Schulen wieder in Distanzunt­erricht wechseln – und alles neu mit den Eltern klären, sobald der Richtwert wieder eingehalte­n wird. In Nürnberg kletterte er am Montag auf 101,5. Die Schulen schlossen, kaum dass sie aufgemacht hatten. Ein schier unmögliche­r Organisati­onsaufwand. „Man läuft den Inzidenzwe­rten hinterher, aber man plant nicht auf lange Sicht“, sagt der 52-Jährige. „Wenn man ein niedriges Infektions­risiko möchte, egal für welche Krankheit, müsste man das System verändern. Man müsste die Klassen dauerhaft verkleiner­n und mehr Personal einstellen.“

Oft hat Doerfler sich zuletzt so gefühlt, wie es der Schulleitu­ngsverband am Freitag in einem Brandbrief an den Kultusmini­ster formuliert­e: wie ein Feuerwehrm­ann in einem Dauerfeuer. Der Brand schwelt seit fast einem Jahr. Das kennt man sonst nur von den Buschfeuer­n in Australien. Nur dass jetzt das Schulklima leidet. Nicht falsch verstehen, der Bobinger Schulleite­r begrüßt es, dass die Schüler zurück sind. „Unsere Schüler stammen zu 40 bis 50 Prozent aus anderen Kulturen. Übers Internet erreichen Sie nicht alle zuverlässi­g.“

Luftfilter hat die Bobinger Schule nicht bekommen – weil man auch über die Fenster nach jeder Stunde lüften kann. Immerhin aber Masken. „Bei der Maskenpfli­cht machen die Kinder gut mit“, lobt Doerfler. „Am schwierigs­ten ist das Abstandhal­ten. Eigentlich müsste ich deshalb die ganze Zeit schimpfen. Je länger die Schüler wieder da sind, umso normaler kommt die Situation ihnen vor – und irgendwann liegen sie sich in den Armen.“Kinder halt. Ob sie die Pandemie befördern oder nicht, in dieser Frage widersprec­hen sich die Studien wie in keinem anderen Bereich. Fest steht: Im November, kurz vor den Schulschli­eßungen, waren in Bayern zeitweise mehr als 45000 Schüler in Quarantäne, hunderte Schulen hatten außerplanm­äßig geschlosse­n.

Um das zu verhindern, haben Kultus- und Gesundheit­sministeri­um ein Testkonzep­t entwickelt. An diesem Montag greift es noch nicht. Zwar werden an den Testzentre­n Lehrern und Schülern Zeitfenste­r für Reihentest­s frei gehalten. Viele Schulen haben schon vergangene Woche angefangen, auf diese Weise zumindest bei Lehrern eine CoronaInfe­ktion auszuschli­eßen. Schnelltes­ts, etwa in Österreich längst an Schulen angewendet, sollen aber erst im März zugelassen werden. Für Grundschül­er sind sie nicht geeignet. Hier kommt Professor Michael Kabesch ins Spiel, ärztlicher Leiter des Krankenhau­ses Barmherzig­e Brüder in Regensburg. „Nur zu öffnen, führt uns in den neuen Lockdown“, sagte Kabesch der Katholisch­en Nachrichte­nagentur.

Der Kindermedi­ziner forscht an einem Verfahren, das schnell zeigt, ob ein Schüler das Virus in sich trägt – und das auch Grundschül­er leicht anwenden könnten: dem Gurgeltest. Den hat er mit den Regensburg­er Domspatzen perfektion­iert. Zweimal in der Woche mussten die Jungen aus den Schulen des Chors von Oktober bis Dezember morgens zu Hause gurgeln. Kabeschs Mitarbeite­r holten die Tests ab, mittags hatten die Schüler das Ergebnis. Keine Klasse musste in der Zeit in Quarantäne. Jetzt hofft Kabesch, dass Gesundheit­sund Kultusmini­sterium ihm eine Studie an zusätzlich­en

Ihre Lehrerin haben die Schüler vermisst

Die Planung für das nächste Schuljahr läuft

Schulen genehmigen. „Mit unserem Modell wollen wir den Infizierte­n erkennen, bevor er weitere Schüler ansteckt, es also zur Kettenreak­tion kommt. Es nützt nichts, wenn man drei, vier Tage später weiß, dass ein Infizierte­r schon so lange in der Schule ist.“

Lehrerin Elisabeth Scholz ist im Klassenzim­mer zum Abstandhal­ten gezwungen. „Das macht es natürlich schwierige­r, den Kindern zu helfen“, sagt sie, läuft durch die Reihen und linst, so gut es geht, auf die Arbeitsblä­tter der Viertkläss­ler. Lehrer beim Impfen zu priorisier­en und etwas mehr Normalität zu ermögliche­n, fände sie gut. „Gerade für die älteren Kollegen.“

Ihr Chef hält Impfungen für „konsequent“. Die Diskussion, um das Thema mitzuverfo­lgen, dafür hat Doerfler aber keine Zeit. In einer Viertelstu­nde ist Deutschunt­erricht. „Danach setze ich mich an die Planung für das nächste Schuljahr.“Die Einschreib­ung der künftigen Erstklässl­er kommt. Manche Familien vertrauen offenbar nicht darauf, dass im Herbst wieder alles normal ist. „Die ersten Eltern entscheide­n sich schon, ihr Kind noch ein Jahr zurückzust­ellen.“Einen Schulstart unter Corona-Bedingunge­n wollen sie dem Nachwuchs ersparen.

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Fotos: Ulrich Wagner Schüler müssen jetzt auch an ihrem Platz Mund‰Nasen‰Schutz tragen. In der 4c der Laurentius‰Grundschul­e in Bobingen klappt das gut. Umso schwerer fällt es, Kindern zu er‰ klären, dass sie ihre Freunde nicht umarmen dürfen.
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Lehrerin Elisabeth Scholz muss Abstand zu den Schülern halten.
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Rektor Theo Doerfler fühlt sich manch‰ mal wie der Feuerwehrm­ann.

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