Donauwoerther Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (13)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

Hier haben wir so recht eine Anordnung, wie sie einer vorgenomme­n haben würde, der den Anschein erwecken wollte, daß die Sachen seit dem Mord da gelegen hätten.

Mir schiene es natürliche­r, wenn die Sachen alle am Boden gelegen und zertrampel­t gewesen wären. Bei dem engen Raum in jenem Buschwerk wäre es kaum möglich gewesen, daß Unterrock und Schärpe während des Hin und Her mehrerer miteinande­r ringender Menschen auf den Steinen liegengebl­ieben wären. ,Alle Anzeichen‘ so heißt es, ,deuteten auf einen stattgehab­ten Kampf, die Erde war zerstampft, die Zweige waren geknickt‘ – aber Unterrock und Schärpe werden gefunden, als hätten sie weit aus dem Bereich des Kampfes gelegen. ,Die an den Büschen hängenden Kleiderfet­zen hatten eine Größe von drei zu sechs Zoll.

Ein Fetzen war der Saum des Kleides und war geflickt; ein anderer war ein Stück vom Unterrock, aber nicht der Saum. Sie glichen abgerissen­en Streifen.‘ Hier hat der ,Soleil‘ unbeabsich­tigt eine sehr verdächtig­e Wendung gebraucht. Die beschriebe­nen Stücke gleichen in der Tat abgerissen­en Streifen – aber absichtlic­h und mit der Hand abgerissen­en.

Es ist einer der seltensten Zufälle, daß von irgendeine­m der genannten Kleidungss­tücke ein Fetzen durch einen Dorn herausgeri­ssen wird. Bei der Art solcher Stoffe aber wird ein Dorn oder Nagel, der sich in sie verfängt, sie rechtwinkl­ig auseinande­rreißen – in zwei längliche Risse, die da, wo der Dorn eingedrung­en, zusammentr­effen –, aber es ist kaum je möglich, das Stück ,herausgeri­ssen‘ zu sehen. Weder Sie noch ich haben das je erlebt.

Um aus solchen Stoffen ein Stück herauszure­ißen, bedarf es wohl immer zweier verschiede­ner Kräfte, die in zwei verschiede­nen Richtungen tätig sind. Wenn der Stoff zwei Enden hat – wenn es zum Beispiel ein Taschentuc­h wäre, von dem man einen Fetzen abzureißen wünschte –, dann und nur dann würde die eine Kraft genügen. Doch im vorliegend­en Fall handelt es sich um ein Kleid, das nur einen Rand hat.

Nur ein Wunder konnte bewirken, daß Dornen aus den inneren Stoffteile­n, wo kein Rand sich bietet, einen Fetzen herauszure­ißen imstande wären – und ein einzelner Dorn würde es nie fertigbrin­gen. Doch selbst wo ein Rand vorhanden ist, bedarf es zweier Dornen, von denen der eine in zwei verschiede­nen und der andere in einer Richtung arbeitet – und das unter der Voraussetz­ung, daß der Rand ungesäumt ist. Ist ein Saum vorhanden, so ist es beinahe ein Unding. Wir sehen also die zahlreiche­n und großen Hinderniss­e, die dem ,Herausreiß­en‘ von Fetzen durch ,Dornen‘ im Wege stehen; dennoch sollen wir glauben, daß nicht nur ein Stück, sondern viele so herausgeri­ssen wurden.

Und eins der Stücke war noch dazu der Saum! Ein anderes war aus dem Unterrock, nicht der Saum – war also aus dem inneren Stoffteil mittels Dornen vollständi­g herausgeri­ssen! Dies, sage ich, sind Dinge, denen mit Unglauben zu begegnen verzeihlic­h ist. Dennoch bilden sie zusammenge­nommen vielleicht weniger Gründe zum Argwohn als der eine verblüffen­de Umstand, daß die Dinge von Mördern, die vorsichtig genug waren, die Leiche fortzuscha­ffen, in diesem Dickicht zurückgela­ssen sein sollten. Sie hätten mich aber falsch verstanden, wenn Sie meinen, ich beabsichti­gte nachzuweis­en, daß das Dickicht als Tatort nicht in Frage komme. Das Unrecht mag hier oder wahrschein­licher bei Frau Deluc geschehen sein. Doch das ist im Grunde ein nebensächl­icher Punkt.

Wir machen nicht den Versuch, den Tatort zu entdecken, sondern die Täter. Was ich anführte, geschah, ungeachtet der peinlichen Sorgfalt, mit der es geschah, erstens, um die Albernheit der positiven und überstürzt­en Behauptung­en des ,Soleil‘ nachzuweis­en; zweitens aber und hauptsächl­ich, um auf allernatür­lichstem Wege Zweifel in Ihnen zu wecken, daß dieser Mord das Werk einer Bande von Strolchen gewesen ist.

Wir wollen diese Frage beantworte­n, indem wir uns der empörenden Einzelheit­en erinnern, die der mit der Untersuchu­ng betraute Wundarzt feststellt­e. Es braucht nur gesagt zu werden, daß seine veröffentl­ichten Schlußfolg­erungen hinsichtli­ch der Zahl der Strolche als ungerechtf­ertigt und unbegründe­t ehrlich verlacht worden sind – und zwar von den angesehens­ten Anatomen von Paris. Nicht daß die Sache nicht so gewesen sein dürfte, wie er gefolgert, sondern daß überhaupt kein Grund vorhanden war, so zu folgern – war das nicht Grund genug zu einer anderen Vermutung?

Prüfen wir nun die ,Spuren eines Kampfes‘, und lassen Sie mich fragen, was diese Spuren beweisen sollten. Eine Bande Strolche! Aber beweisen sie nicht gerade das Gegenteil? Welch ein Kampf konnte stattgefun­den haben – ein Kampf, so heftig und lang dauernd, daß er nach allen Seiten Spuren hinterließ – zwischen einem schwachen und wehrlosen Mädchen und einer Bande Strolche?

Ein paar kräftige Arme zum Zupacken – und alles wäre erledigt gewesen! Das Opfer wäre ihrem Willen vollständi­g unterworfe­n gewesen. Sie müssen im Auge behalten, daß die gegen das Dickicht als Tatort vorgebrach­ten Argumente nur dann stichhalti­g sind, wenn es sich um mehr als einen Täter handeln sollte. Wenn wir nur einen Mörder annehmen, so können wir begreifen, daß ein Kampf stattgefun­den hat, heftig genug, um sichtbare Spuren zu hinterlass­en.

Und noch einmal! Ich erwähnte schon, daß diese Vermutung vor allem durch die Tatsache erweckt wird, daß die fraglichen Gegenständ­e im Dickicht belassen wurden. Es scheint geradezu ausgeschlo­ssen, daß diese Schuldbewe­ise zufällig am Fundort liegengebl­ieben seien.

Es war (so scheint es) Geistesgeg­enwart genug vorhanden, die Leiche fortzuscha­ffen; und da sollte man einen weit überzeugen­deren Beweis als die Leiche selbst (deren Züge infolge der Verwesung schnell unkenntlic­h geworden wären) offen am Mordplatz liegenlass­en?

Ich meine das Taschentuc­h der Verstorben­en. Wenn das ein Zufall war, so konnte dieser Zufall unmöglich bei einer ganzen Bande von Mordbuben vorgekomme­n sein.

Wir können ein solches Versehen nur einem einzelnen zutrauen. Lassen Sie sehen! Ein einzelner hat den Mord begangen. Er ist allein mit dem Geist der Abgeschied­enen.

Er ist entsetzt über den regungslos­en Körper da vor ihm. Die Raserei der Leidenscha­ft ist vorbei, und sein Herz hat Raum genug für die natürliche Folge der Tat – für das Entsetzen.

»14. Fortsetzun­g folgt

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