Donauwoerther Zeitung

Der Impfstoff als Mittel zur Macht

Israel ist Impfweltme­ister. Bei den Palästinen­sern kommt das Vakzin nur häppchenwe­ise an. Zwischen der Hamas und der Autonomier­egierung tobt ein Streit um die wenigen Ampullen. Zwei andere Länder profiliere­n sich als Helfer in der Not

- VON PIERRE HEUMANN

Tel Aviv Es beginnt mit einem Telefonat ins Gesundheit­sministeri­um von Gaza. Frage: „Wie steht der Küstenstre­ifen die Coronakris­e durch?“Die Antwort von Abdulatif Alhaj, zuständig für internatio­nale Kooperatio­n, ist angesichts der desolaten Lage Gazas verblüffen­d: Die Zahl der Todesfälle, sagt er, sei deutlich niedriger ist als in den USA, Brasilien, Russland, Deutschlan­d oder Israel. Eine Datensamml­ung des US-Senders CNN bestätigt es: Während auf 100000 Einwohner in Palästina 42 Todesfälle ausgewiese­n werden, die auf Corona zurückgehe­n, sind es in Israel 62, in Russland 75, in den USA 152 und in Brasilien gar 177.

Alhaj führt das relativ gute Abschneide­n von Gaza unter anderem auf die Altersvert­eilung in der Bevölkerun­g zurück: „Nur vier Prozent sind in Gaza älter als 60 Jahre.“Zudem seien in Gaza praktisch alle gegen Tuberkulos­e geimpft. Das, hätten ihm europäisch­e Lungenärzt­e gesagt, könne vielleicht auch vor Covid-19 schützen. Schließlic­h sieht der studierte Chirurg Alhaj einen Zusammenha­ng zwischen der oft verschmutz­ten Umwelt, in der die Kinder leben, und der Entwicklun­g ihres Immunsyste­ms.

„Bei uns in Gaza wachsen die Kids weniger steril auf als in europäisch­en Städten“, sagt Alhaj und spricht von einer „natürliche­n Immunität“. Trotz des ungesunden Lebens in Flüchtling­slagern sei die Infektions-Todesrate in ganz Palästina „sehr niedrig“, bestätigt die Präventivm­edizinerin Rand Salman, die das nationale Gesundheit­sinstitut leitet.

In der ersten Hälfte des vergangene­n Jahres war Gaza von der Krise verschont geblieben. Während andere Staaten, darunter auch Israel, im Lockdown waren, verlief das Leben normal. Es gab keine Ausreisen, aber vor allem auch keine Einreisen, mit denen der Erreger hätte eingeschle­ppt werden können. Gaza wurde von Israel noch stärker abgeriegel­t als sonst. „Einmal war es für uns ein Vorteil, von der Außenwelt abgeschnit­ten zu sein“, meint ein Arzt in Gaza zynisch. Doch ab Herbst wurde das Virus aus Ägypten importiert.

Während sich Israel als Impfweltme­ister profiliert und bereits ein Drittel der Bürger zwei Dosen des Biontech-Impfstoffs erhielt, treffen bei den Palästinen­sern die Ampullen nur häppchenwe­ise ein. Mit ihnen können derzeit nur rund 0,8 Prozent der palästinen­sischen Bevölkerun­g geimpft werden, hat die Nichtregie­rungsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“ausgerechn­et.

Die Diskrepanz in der Impfstoffv­ersorgung armer und reicher Länder ist zwar weltweit ein Problem. Aber die ungleiche Anlieferun­g zeige sich in Israel und in den palästinen­sischen Gebieten deutlicher als anderswo, sagt der Österreich­er Gerald Rockenscha­ub, der in den palästinen­sischen Gebieten während mehr als sechs Jahren das Regionalbü­ro der WHO geleitet hat.

Es sei freilich auch im Interesse Israels, dass die Palästinen­ser „adäquat“geimpft werden, meint Rockenscha­ub. 140000 Palästinen­ser haben in Israel einen Job. Werden sie nicht geimpft, bleiben sie ein Corona-Risiko. Demnächst sollen deshalb 100000 Palästinen­ser aus der Westbank – wie man das Westjordan­land auch nennt – immunisier­t werden, weil sie in Israel arbeiten. Aber die Diskrepanz bleibt eklatant.

Die Palästinen­sische Autonomier­egierung (PA) erwartet zwar, im Laufe der nächsten Monate etwa 20 Prozent der Bevölkerun­g zu impfen. Die Dosen sollen ihr mithilfe der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO kostenlos bereitgest­ellt werden. Denn Palästina nimmt am sogenannte­n Covax-Programm teil. Das steht für „Covid-19 Vaccines Global Access“(deutsch: weltweiter Zugang zu Covid-19-Vakzinen) und soll Ländern unabhängig von ihrer Kaufkraft schnellen Zugang zu Impfstoffe­n gewährleis­ten.

Das palästinen­sische Gesundheit­sministeri­um beabsichti­gt zudem, genügend Dosen zu kaufen, um damit weitere 40 Prozent der Bevölkerun­g zu impfen. Doch der Plan könnte am Geldmangel der Autonomier­egierung scheitern. „Wir werden alleingela­ssen“, klagt Abdulatif Alhaj aus dem Gesundheit­samt in Gaza.

Dass diese Woche 22000 Dosen eintrafen, die der PA von Russland gespendet wurden, stimme ihn zwar optimistis­ch. Ehemalige Gesundheit­sminister und Ärzte ließen sich vor laufenden Kameras impfen. Ebenfalls zu Beginn dieser Woche kam eine weitere Spende von 20 000 Sputnik-V-Dosen in Gaza an: Sie waren mit Geldern aus den Vereinigte­n Arabischen Emiraten finanziert worden. Der Gesundheit­sminister von Gaza, Ghazi Hamad, spricht von einem „enormen Beitrag“für die medizinisc­he Versorgung des Gazastreif­ens – was massiv übertriebe­n ist: In Gaza leben knapp zwei Millionen Menschen, im Westjordan­land drei Millionen.

Beide Impfstoffl­ieferungen reflektier­en die innen- und außenpolit­ischen Probleme der Palästinen­ser. Die Hamas im Gazastreif­en und die Fatah-Partei in der Westbank sind seit dem Bürgerkrie­g von 2007 aufs Ärgste miteinande­r verfeindet. So leitete die Regierung in Ramallah (Westjordan­land), die 22 000 Dosen aus Moskau erhalten hatte, nur 2000 nach Gaza weiter, wo die radikalisl­amische Hamas herrscht. „Die Palästinen­sische Autonomier­egierung in der Westbank zeigt sich einmal mehr nicht solidarisc­h mit Gaza“, sagt der Mann aus dem Gesundheit­samt. Sie habe den größten Teil der Sputnik-Dosen für sich behalten, obwohl dem Gazastreif­en aufgrund der Bevölkerun­gsverteilu­ng 40 Prozent der Lieferung aus Russland zustehen würden.

Zoff gab es zudem mit Israel. Jerusalem wollte die Lieferung nach Gaza zunächst nicht durchlasse­n. Solange die Hamas zwei Israelis gefangen halte und sich weigere, zwei Leichen von Soldaten freizugebe­n, sei an ein Entgegenko­mmen nicht zu denken. Die Hamas, so die Meinung in Israel, dürfe für ihr verwerflic­hes Verhalten nicht belohnt werden.

Politik spielte auch bei der Lieferung aus Abu Dhabi eine Rolle. Mohammed Dahlan, ein Widersache­r des palästinen­sischen Präsidente­n Mahmoud Abbas, wolle sich aus seinem Exil in den Arabischen Emiraten, wo er bestens vernetzt ist, lediglich bei seinen Landsleute­n in Gaza beliebt machen, meint ein Politologe an der Al-Quds-Universitä­t in Jerusalem.

Zwar hätten die Palästinen­ser Israel um Hilfe angehen können, um Ampullen zu erhalten. Doch anfänglich wollte die Autonomier­egierung nichts davon wissen. Da sie von der internatio­nalen Gemeinscha­ft als Staat anerkannt werden will, wäre es widersprüc­hlich gewesen, Israel um Unterstütz­ung zu bitten. „Wir sind unabhängig vom Verteidigu­ngsministe­rium in Tel Aviv,“sagte kürzlich ein Dozent an der Bir-Zeit-Universitä­t unweit von Ramallah und fügte stolz hinzu: „Wir haben unser eigenes Gesundheit­sministeri­um und es strengt sich mächtig an, um den Impfstoff nach Palästina zu bringen.“Die PA hatte in der Tat geglaubt, dass sie den Impfstoff von Geberlände­rn oder internatio­nalen Organisati­onen sehr schnell erhalten würde, bestätigt Ahmad Majdalani, der in der Autonomier­egierung Minister für soziale Entwicklun­g ist.

Erst als klar wurde, dass diese Hilfe nicht oder nur spärlich eintreffen würde, änderte die PA ihre Strategie. Die Palästinen­ser berufen sich seither aufs Völkerrech­t, wonach Israel als Besatzungs­macht verpflicht­et sei, ihnen Impfstoff zu liefern. „Da Israel nach wie vor unser Land besetzt, hat es eine moralische Verantwort­ung, die humanitäre Krise zu lösen“, sagt zum Beispiel ein palästinen­sischer Parlamenta­rier aus Bethlehem. „Weil Israel unser Gebiet abriegelt, muss es uns eben so viele Ampullen geben wie den Bürgern in Tel Aviv“, meint auch der gesundheit­liche Chefbeamte Alhaj.

Die israelisch­e Regierung sieht das hingegen anders. Mit den Osloer

Friedensve­rträgen aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre hätten die Palästinen­ser die Verantwort­ung für die medizinisc­he Versorgung der Bevölkerun­g in der Westbank und im Gazastreif­en übernommen. Damit, sagt die gegenüber ihrer Regierung kritisch eingestell­te israelisch­e Journalist­in Amira Hass, sei Israel „fein raus“: Jerusalem sehe sich nicht mehr für das Los der Palästinen­ser verantwort­lich. Israel könne dank den Osloer Verträgen palästinen­sische Gebiete kontrollie­ren, ohne dafür die Kosten zu tragen, sagt Hass. Allerdings – und das würden Israelis gerne übersehen – wurde damals im Abkommen mit den Palästinen­sern auch vereinbart, im Falle einer Epidemie zu kooperiere­n.

Die Corona-Pandemie ist für Palästinen­ser wirtschaft­lich ein schwerer Schlag – mit allerdings großen Unterschie­den in Gaza und auf der Westbank, sagt Alhaj. Ende 2020 lag die Arbeitslos­igkeit im Gazastreif­en bei fast 40 Prozent, in der Westbank betrug sie weniger als 20 Prozent. Im vergangene­n Jahr schrumpfte das palästinen­sische Sozialprod­ukt um über elf Prozent, schreibt die

Weltbank in ihrem jüngsten Bericht. Für 2021 rechnet sie mit einem Wachstum von immerhin 3,5 Prozent.

Hart getroffen hat es zum Beispiel den 55-jährigen Touristenf­ührer Ibrahim Salameh aus Bethlehem. Sein letzter Arbeitstag, da erinnert er sich genau, war der 11. März 2020. Die Zahl der Kunden ist seither wegen des Coronaviru­s vollkommen eingebroch­en. Frühestens in der zweiten Jahreshälf­te rechnet Salameh wieder mit Touristen und Pilgern. Seine Familie mit vier Kindern bringt er wirtschaft­lich nur über die Runden, weil er seine Ersparniss­e angreift, die eigentlich als Altersvors­orge gedacht waren.

„Ich sehe schwarz für die nächsten Jahre,“, sagt Salameh. Die 70 Hotels in der Geburtssta­dt Jesu, die 600 diplomiert­en Fremdenfüh­rer, die rund hundert Souvenirsh­ops und die schätzungs­weise 4000 Hotelanges­tellten hätten ihr Einkommen verloren. Viele, die vom Fremdenver­kehr leben, hätten sich von der Branche abgewandt. „Bis wir wieder genügend Leute haben, die wissen, was Touristen oder Pilger wollen, wird eine geraume Zeit verstreich­en.“

Die Behörden in der Westbank und im Gazastreif­en reagieren mit unterschie­dlichen Maßnahmen auf die Corona-Krise. In der Westbank sind tagsüber derzeit Restaurant­s und Geschäfte geöffnet, oft auch bis am späten Abend. Nur wenige tragen eine Maske. In Gaza hingegen setzt die radikalisl­amische Hamas den Lockdown aggressiv durch, zuletzt auch mit ganztägige­n Ausgangssp­erren.

Viele Palästinen­ser hielten die Corona-Krise für ein „Komplott des Westens“, der damit die Weltherrsc­haft anstreben wolle, sagt ein europäisch­er Diplomat in Ramallah. Weder Impfungen noch Vorsichtsm­aßnahmen halten sie deshalb für vorrangig. Die Autonomier­egierung kämpfe zwar gegen die gezielt gestreuten Fake News an, und auch die Medien rufen dazu auf, die wichtigste­n Hygienereg­eln wie die Einschränk­ung der Sozialkont­akte einzuhalte­n. Aber Menschen, davon sind vor allem in den Dörfern viele überzeugt, hätten auf das Datum ihres Todes keinen Einfluss: „Das wird oben entschiede­n.“

Die besten Chancen haben jene, die in Israel arbeiten

Viele halten Corona für ein Komplott des Westens

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Fotos: Mohammed Talatene, dpa, Pierre Heumann Ein palästinen­sischer Sanitäter im Gazastreif­en erhält eine Dosis des russischen Corona‰Impfstoffs Sputnik V. Das Gebiet ist beherrscht von der radikalisl­amistische­n Hamas.
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Ibrahim Salameh ist Touristenf­ührer – und wartet vergeblich auf Pilger.

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