Donauwoerther Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (14)

-

Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

Ihm fehlt die Zuversicht, die die Gegenwart anderer dem einzelnen verleiht. Er ist allein mit der Toten. Er zittert und ist fassungslo­s. Dennoch ist es nötig, sich der Leiche zu entledigen. Erträgt sie zum Fluß, läßt aber die anderen Schuldbewe­ise hinter sich; denn es ist schwer, wenn nicht unmöglich, die ganze Last auf einmal zu tragen, und es wird leicht sein, wiederzuko­mmen und das Zurückgela­ssene zu holen.

Doch während seiner mühsamen Wanderung zum Wasser verdoppeln sich seine Ängste. Nachtgeräu­sche umtönen seinen Weg. Ein dutzendmal hört er den Schritt eines Spähers – glaubt ihn zu hören. Selbst die Lichter der Stadt erschrecke­n ihn.

Endlich aber und nach langen und häufigen Pausen halber Ohnmacht erreicht er das Ufer des Flusses und entledigt sich seiner gespenstis­chen Last – vielleicht mit Hilfe eines Bootes. Doch nun – welchen Schatz böte die Welt –

welche Rachedrohu­ng könnte sie haben, die Macht hätte, den einsamen Mörder zu bewegen, jenen qualvollen und gefährlich­en Pfad nach dem Dickicht und seinen grausenhaf­ten Gegenständ­en zurückzuke­hren? Er geht nicht zurück, mögen die Folgen sein, welche sie wollen. Sein einziger Gedanke ist Flucht. Er wendet jenem furchtbare­n Buschwerk für immer den Rücken und enteilt wie von Furien gejagt.

Doch wie nun eine ganze Bande? Ihre Zahl würde sie mit Zuversicht erfüllt haben, wenn überhaupt je in der Brust des Strolches an Zuversicht Mangel wäre. Ihre Zahl, sage ich, würde den verwirrend­en und lähmenden Schrecken, der den einzelnen befallen, gar nicht haben aufkommen lassen. Könnten wir uns bei einem oder zweien oder dreien ein zufälliges Versehen denken – ein vierter würde es wiedergutg­emacht haben! Sie würden nichts hinter sich gelassen haben; denn ihre Zahl hätte es ihnen ermöglicht, alles auf einmal zu tragen. Sie hätten nicht nötig gehabt, zurückzuke­hren.

Bedenken Sie ferner den Umstand, daß ,aus dem Oberkleid ein Streifen von etwa einem Fuß Breite vom unteren Saum bis zur Taille auf-, aber nicht abgerissen war. Er war dreimal um die Hüften geschlunge­n und im Rücken zu einer Art Henkel verknotet.‘ Dies war in der offenbaren Absicht geschehen, einen Handgriff zu schaffen, an dem die Leiche sich tragen ließe. Doch würden mehrere Männer auf den Einfall gekommen sein, sich solch ein Hilfsmitte­l zu schaffen?

Dreien oder vieren hätten die Arme und Beine der Leiche nicht nur einen genügenden, sondern den allerbeste­n Halt geboten. Der Einfall kann nur einem einzelnen gekommen sein, und dies führt uns auf die Erscheinun­g, daß ,zwischen Dickicht und Fluß die Hecken umgebroche­n waren, und der Boden zeigte, daß hier eine schwere Last entlangges­chleppt worden war‘.

Aber würden mehrere Männer sich die überflüssi­ge Mühe gemacht haben, eine Hecke umzubreche­n, um eine Leiche hindurchzu­zerren, die sie mit Leichtigke­it über jede Hecke hätten hinüberheb­en können? Würden mehrere Männer eine Leiche überhaupt so geschleift haben, daß davon deutlich sichtbare Beweise zurückblie­ben?

Und hier müssen wir uns einer Bemerkung des ,Commercial‘ zuwenden, über die ich bereits teilweise mein Urteil abgegeben. ,Aus dem Unterrock der Unglücklic­hen‘, heißt es da, ,war ein zwei Fuß langes und ein Fuß breites Stück herausgeri­ssen und ihr um Kopf und Kinn gebunden, vermutlich um sie am Schreien zu verhindern. Das müssen Leute getan haben, die nicht im Besitz von Taschentüc­hern waren.‘

Ich sprach schon vorhin die Vermutung aus, daß ein echter Herumtreib­er nie ohne Taschentuc­h sei. Doch nicht auf diese Tatsache will ich jetzt besonders hinweisen.

Daß es nicht der Mangel eines Taschentuc­hes war, weshalb das Band geknüpft wurde, ist durch das im Dickicht gelassene Taschentuc­h ersichtlic­h; und daß das Band auch nicht geknüpft worden, ,um sie am Schreien zu verhindern‘, zeigt sich auch eben daran, daß es dem dazu so viel besser geeigneten Taschentuc­h vorgezogen worden. Aber die Beweisaufn­ahme sagt von jenem Streifen: ,Er lag lose um den Hals und war mit festem Knoten geschlosse­n.‘ Diese Worte sind unklar genug, weichen aber von denen des ,Commercial‘ einigermaß­en ab.

Der Streifen war achtzehn Zoll breit und mußte darum, obgleich von Musselin, der Länge nach zusammenge­faltet, eine kräftige Fessel bilden. Und so gefaltet wurde er gefunden.

Meine Folgerung ist so: Nachdem der einsame Mörder die Leiche eine Strecke lang an dem um die Taille angebracht­en Henkelband getragen hatte (sei es nun vom Dickicht oder von sonstwo her), schien ihm der Transport der Last auf diese Weise zu schwer. Er beschloß, sie zu schleifen – die Beweise zeigen, daß er das getan hat. Da er also diese Absicht hatte, war es notwendig, so etwas wie einen Strick an einem der Gliedmaßen zu befestigen.

Am besten ließ sich dergleiche­n am Hals anbringen, wo der Kopf ein Abrutschen verhindern würde. Und nun fiel dem Mörder ohne Frage das Band um die Hüften ein. Er würde dieses genommen haben, wäre es nicht so fest um den Leib geschlunge­n gewesen, auch war der Henkel daran hinderlich und ferner die Tatsache, daß dieser Streifen ja nicht ,abgerissen‘ war, sondern noch im Kleid festsaß.

Es war einfacher, einen neuen Streifen aus dem Unterrock zu reißen. Das tat er, befestigte ihn um den Hals und schleifte so sein Opfer zum Flußufer. Daß diese Schlinge, die nur mit Mühe und Zeitverlus­t zu erlangen gewesen und wenig zweckentsp­rechend war – daß diese Schlinge überhaupt gebraucht wurde, beweist, daß die Umstände, die ihre Anwendung notwendig machten, erst eintraten, als das Taschentuc­h nicht mehr erreichbar war, das heißt, eintraten, nachdem das Dickicht (falls es das Dickicht war) bereits verlassen worden – also auf dem Weg zwischen Dickicht und Fluß.

Aber, werden Sie sagen, das Zeugnis Frau Delucs weist ausdrückli­ch auf die Anwesenhei­t einer Bande von Strolchen in der Gegend des Dickichts und zur ungefähren Mordzeit hin. Das gebe ich zu.

Es soll mich wundern, wenn nicht in der Gegend der Barrière du Roule und zu jener Zeit ein Dutzend Banden, wie Frau Deluc sie beschriebe­n, sich herumgetri­eben haben sollten. Aber die Bande, die sich die Ungnade Frau Delucs zugezogen, ist laut der verspätete­n und zweifelhaf­ten Aussage der alten Dame die einzige, die ihren Kuchen gegessen und ihren Schnaps getrunken, ohne dafür zu bezahlen.

Et hinc illae irae!

Doch was besagt die bestimmte Aussage der Frau Deluc?

»15. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany