Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (15)
EDen DoppelmordFall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der ParfümVerkäuferin Marie Rogêt aufzudecken. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg
ine Bande übler Subjekte erschien bei ihr, benahm sich frech, aß und trank, ohne zu bezahlen, ging in der Richtung davon, die vorher das Pärchen eingeschlagen, kam zur Dämmerzeit zurück und setzte in großer Eile über den Fluß.
Nun erschien dieser Rückzug Frau Deluc sicher eiliger, als er in Wirklichkeit war, eilig, weil sie noch immer auf Bezahlung gehofft hatte.
Nie hätte sie sonst etwas an der Eile der Leute finden können, da es doch zur Dämmerzeit war? Es ist doch wahrlich nichts Verwunderliches, daß selbst Herumtreiber Eile haben, heim zu kommen, wenn ein breiter Fluß in kleinen Booten überquert werden muß, wenn ein Sturm heraufzieht und wenn die Nacht naht.
Ich sage naht; denn noch war sie nicht da. Es war erst Dämmerzeit, als die unhöfliche Eile der ,Bösewichter‘ die gute Frau Deluc beleidigte. Aber uns wurde gesagt, daß
Frau Deluc und ihr ältester Sohn an demselben Abend ,in der Nähe des Gasthofs eine Frauenstimme schreien hörten‘. Und mit welchen Worten bezeichnet Frau Deluc die Abendzeit, zu der diese Schreie vernommen worden? Es war ,bald nach Dunkelwerden‘, sagte sie.
Aber bald nach Dunkelwerden ist zum mindesten dunkel, und ,zur Dämmerzeit‘ ist bestimmt noch bei Tageslicht. Es ist also vollkommen klar, daß die Bande die Barrière du Roule verlassen hatte, ehe Frau Deluc jene Schreie vernahm. Und obgleich bei den zahlreichen Wiedergaben der Zeugenberichte die von den Zeugen gebrauchten Ausdrücke deutlich und unverändert angewendet wurden, genau wie ich sie in diesem Gespräch mit Ihnen angewendet habe, ist doch weder von den öffentlichen Blättern noch von der Polizei der Unterschied in den beiden Ausdrücken der Zeugin festgestellt worden.
Ich will den gegen eine größere Bande angeführten Gründen nur noch einen hinzufügen, dieser eine aber fällt, wenigstens für meine Begriffe, entscheidend ins Gewicht. Unter den vorliegenden Umständen einer ungeheuer großen Belohnung und völliger Straffreiheit kann keinen Moment angenommen werden, daß ein Mitglied einer Bande gemeiner Strolche oder irgendwelcher Kerle überhaupt seine Schuldgenossen nicht verraten haben sollte. Jeder einzelne solch einer Bande ist weniger auf die Belohnung oder die Straffreiheit versessen als ängstlich, verraten zu werden.
Er verrät schnell und ohne Besinnen, damit er selbst nicht verraten werde. Daß das Geheimnis nicht aufgedeckt worden, ist der allerbeste Beweis dafür, daß es eben wirklich ein Geheimnis ist. Die Schrecken dieser dunklen Tat sind außer Gott nur einem oder zwei lebenden Wesen bekannt.
Lassen Sie uns nun die mageren, doch einwandfreien Früchte unserer langen Analyse zusammenzählen. Wir sind dahin gekommen, entweder einen tödlichen Unfall unter dem Dach der Frau Deluc oder einen im Dickicht an der Barrière du Roule begangenen Mord anzunehmen – einen Mord, den ein Liebhaber oder wenigstens ein intimer und geheimer Freund der Verstorbenen begangen. Dieser
Freund ist von dunkler Hautfarbe. Diese Farbe, der ,Henkel‘ am Tragband und der ,Seemannsknoten‘, mit dem die Hutbänder zusammengebunden waren, deuten auf einen Seemann. Sein Verhältnis zu der Verstorbenen, einem verwegenen, aber nicht verworfenen Mädchen, kennzeichnete ihn als über den gemeinen Matrosen stehend. Hierin bestärken uns die gut und überzeugend geschriebenen Mitteilungen, die den Zeitungen zugegangen sind. Der Umstand jener ersten Entführung legt den Gedanken nahe, diesen Seemann mit jenem vom ,Mercure‘ erwähnten ,Marineoffizier‘, der damals das Mädchen zu unrechtem Tun verleitet, zu identifizieren. Und hierher paßt nun sehr gut die auffallende Tatsache, daß jener Mann mit der dunklen Gesichtsfarbe bisher nicht wiederaufgetaucht ist. Ich möchte nochmals bemerken, daß er von dunkler Gesichtsfarbe ist – sie muß schon außergewöhnlich dunkel sein, da sie das einzige Merkmal bildet, das sowohl Valence als Frau Deluc für den Betreffenden anzugeben wissen. Aber warum ist dieser Mann abwesend? Wurde er von der Bande gemordet? Und wenn, wieso waren nur Spuren des Mädchens zu finden? Der Tatort für beide Morde muß natürlich als ein und derselbe angenommen werden. Und wo ist seine Leiche? Die Mörder hätten sich doch wahrscheinlich beider Leichen in gleicher Weise entledigt. Man könnte aber sagen, der Mann lebt und meldet sich nicht, aus Angst, daß ihm der Mord zur Last gelegt werde. Diese Betrachtung könnte ihm jetzt – zu so später Zeit – gekommen sein, nachdem ausgesagt worden, daß man ihn mit Marie gesehen hat, sie hätte aber zur Zeit der Tat keine Bedeutung gehabt.
Der erste Impuls eines Unschuldigen hätte doch sein müssen, die Untat anzuzeigen und zur Feststellung der Mordbuben mitzuwirken. Diese Klugheit hätte ihn gerettet. Er war mit dem Mädchen gesehen worden. Er hatte mit ihr in einem öffentlichen Fährboot den Fluß gekreuzt.
Die Denunzierung der Mörder hätte selbst einem Idioten als sicherstes und einziges Mittel erscheinen müssen, sich selbst vom Verdacht zu reinigen. Wir können nicht annehmen, daß er an den Ereignissen jener Sonntagnacht erstens unschuldig sei und zweitens auch von der Greueltat nichts wisse. Dennoch ist nur unter solchen Umständen die Tatsache zu erklären, daß er – falls er am Leben – die Denunzierung der Mörder unterließ.
Und welche Mittel besitzen wir, die Wahrheit zu ergründen? Wir werden sehen, wie diese Mittel während unseres Fortschreitens sich multiplizieren und klarere Gestalt annehmen. Wir müssen die Geschichte der ersten Entführung bis zu Ende verfolgen, müssen das ganze Leben und Treiben des ,Offiziers‘, seine gegenwärtige Tätigkeit, sein Tun und Lassen zur Zeit des Mordes in Erfahrung bringen. Wir müssen die der ,Abendzeitung‘ zugegangenen Zuschriften, sowohl Stil wie Handschrift, sorgfältig miteinander und mit den schon früher der ,Morgenzeitung‘ zugegangenen vergleichen, die so heftig darauf bestanden, daß Mennais der Schuldige sei. Und all dies getan, müssen wir diese sämtlichen Schreiben mit der wohlbekannten Handschrift jenes Offiziers vergleichen. Wir müssen versuchen, aus Frau Deluc und ihren Knaben sowie dem Omnibuskutscher Valence etwas mehr über die äußere Erscheinung und das Benehmen des ,Mannes mit der dunklen Gesichtsfarbe‘ herauszubekommen. Es muß klug gestellten Fragen gelingen, von diesem oder jenem Informationen über diesen speziellen Punkt oder auch über andere zu erhalten – Informationen, von denen die Leute selbst nicht einmal wissen mögen, daß sie sie besitzen.