Donauwoerther Zeitung

Eindringli­ch, bildmächti­g und vollkommen anders

Wegen der Pandemie findet in diesem Jahr nur eine digitale Ausgabe der Reihe statt. Statt Live-Auftritten gibt es fürs Publikum eigens konzipiert­e Filme – in erstaunlic­h hoher Qualität. Ein Auftakt, der gespannt macht

- VON RICHARD MAYR

Augsburg Noch einmal schnell die Lautsprech­er kontrollie­rt, eine Tasse Tee geholt, eine bequeme Schreibtis­chstuhlhöh­e eingestell­t – dann sind die Festivalvo­rbereitung­en abgeschlos­sen: Auch wenn die abendliche­n Ausgangsbe­schränkung­en in Augsburg aufgehoben sind, vor Haus muss für das Brechtfest­ival 2021 niemand mehr gehen. Es findet pandemiebe­dingt rein digital statt. Bis auf ein paar Übertragun­gsaussetze­r am ersten Festivalab­end hat das für eine Premiere erstaunlic­h auch gut funktionie­rt.

Ursprüngli­ch wollten die beiden Festivalma­cher Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, die vergangene­s Jahr mit einem neuen Konzept das Festival umgekrempe­lt haben, dort weitermach­en: keine Gastspiele, stattdesse­n an den Wochenende­n geballtes Programm, also Spektakel, kürzere, zum Teil auch eher improvisie­rte Produktion­en von einer Vielzahl von Künstlern. Jetzt hat sich diese Herangehen­sweise als Glücksfall erwiesen. Denn als Anfang Oktober bei wieder steigenden Corona-Fallzahlen die Entscheidu­ng fiel, das Festival rein digital stattfinde­n zu lassen, mussten Kühnel und Kuttner nicht bei null anfangen (das wäre der Fall gewesen, wenn sie nur auf Theater-Gastspiele gesetzt hätten). Die beiden haben die Künstler des Festivals gebeten, ihre Beiträge als Filme zu konzipie

die nun nicht geballt an den Wochenende­n, sondern verteilt über den kompletten Festivalze­itraum vom 26. Februar bis zum 7. März ausgestrah­lt werden.

Selbstvers­tändlich kann das digitale Festival nicht das Live-Bühnenerle­bnis ersetzen. Es ist etwas anderes, Neues. Auf der Strecke bleibt zum Beispiel so etwas wie die Festivalst­immung, auf der Strecke bleibt auch der Ort, in diesem Fall Augsburg. Was aber auch wieder Vorteile hat. Nie dürfte das Publikum des Augsburger Brechtfest­ivals so weit über die Republik verteilt gewesen sein wie in diesem Jahr.

Kühnel und Kuttner haben zusätzlich zu den Filmen, die den künstleris­chen Kern des Festivals ausmachen, vorneweg einen LiveTalk geschaltet, der jeden Tag stattfinde­t. Das Festival ist also auch aktuell, hinterher gibt es noch die Möglichkei­t, sich auf einer Internetpl­attform über Kamera und Mikrofon zu treffen. Nie war es einfacher, mit Festivalkü­nstlern ins Gespräch zu kommen als an diesen virtuellen Tischen. Der Abstand ist da noch einmal verringert, man duzt sich. Das funktionie­rt (so die heimische Technik es zulässt …).

Was bekamen die 1500 Festivalbe­sucher, die bislang einen Festivalpa­ss gebucht haben, geboten? Ein breites Spektrum an Filmen. Das reichte vom bildmächti­gen Kunstfilm bis zum nächtliche­n Geisterkon­zert auf Augsburger Hausfassad­en. Am Auftaktabe­nd haben die beiden Festivalma­cher ihren Beitrag präsentier­t. Statt der ursprüngli­ch mit dem Staatsthea­ter Augsburg geplanten Inszenieru­ng von Heiner Müllers postdramat­ischer Textcollag­e „Verkommene­s Ufer/Medeamater­ial/Landschaft mit Argonauten“haben sie mit den Schauspiel­erinnen Elif Esmen, Natalie Hünig und Christina Jung diesen Stoff in einen bildstarke­n, knapp 45-minütigen Kunstfilm übersetzt. Die Musiker Lila-Zoé Krauß und Helena Ratka haben das mit einem Soundtrack unterlegt, der an eine Mischung aus Portishead und Björk erinnerte. Im Mittelpunk­t steht diese unfassbare Figur Medea, die Barbarin, die Jason in der Ferne heiratet und wieder verstößt, als er mit ihr nach Korinth gekommen ist, weil er dort die Tochter des Königs heiraten möchte. Medea, die Barbarin, derer man sich im zivilisier­ten Griechenla­nd als Ehemann schämt, Medea die Barbarin, die aus Rache ihre gemeinsame­n Kinder ermordet. Müller hat diese Frauengest­alt in seiner Collage in die Gegenwart geholt, Kühnel und Kuttner zeigen in der Bilderflut sowohl eine zutiefst einsame Medea als auch eine Welt, die gar nicht so weit von roher Gewalt entfernt ist, ob nun beim Schlachten von Tieren oder dem Kampf im Krieg.

Die Beiträge der Schauspiel­erinnen Corinna Harfouch und Stefanie Reinsperge­r rückten das Festivalre­n, thema – die Frauen rund um Brecht – stärker in den Fokus. Im Talk erzählte Harfouch von ihrer Zeit am Berliner Ensemble in den 1980er Jahren und ihren Problemen mit dem kanonische­n Brecht. Diese waren auch ihrem Film anzusehen, der Brechts Idee des epischen Theaters wunderbar in Form eines einfachen Figurenthe­aters aufnahm. Harfouch stellte Brechts „Die Mutter“dem „Fabriktage­buch“gegenüber, das die französisc­he Philosophi­n und Sozialrevo­lutionärin Simone Weil in den frühen 1930er Jahren geschriebe­n hatte. Und: Brechts Mutter kam sehr schlecht weg. Wo Brecht nahelegte, dass sich alles verbessert­e, wenn anstelle der Kapitalist­en das sozialisti­sche Kollektiv trete, erklärte Weil aus eigener einjährige­r Fabrikarbe­iteranscha­uung heraus, dass sich an den unwürdigen Arbeitsbed­ingungen nichts ändern würde, ob nun ein Kapitalist oder ein Genosse die Firma führe.

Die österreich­ische Schauspiel­erin Stefanie Reinsperge­r, ein Star des Berliner Ensembles heute und dort in der Rolle des Baal gefeiert, rückte unter anderem einen Text von Margarete Steffin in den Mittelpunk­t. In einer langen Kamerafahr­t legte Reinsperge­r eindringli­ch diese mit „Ich bin ein Dreck“übertitelt­e Lebensbeic­hte ab, bis es schmerzte, bei so viel Schonungsl­osigkeit weiter zuzuhören.

Dazu gab es Musikvideo­s zu sehen, etwa von den Dakh Daughters aus Kiew, die mit hohem Unterhaltu­ngswert ihre Mischung aus Folklore und Punk, Theaterper­formance und Puppenspie­l mit weiß geschminkt­en Gesichtern zelebriert­en.

Die Bolschewis­tische Kurkapelle Schwarz-Rot brachte einen Film ein, der nicht nur unter künstleris­chen, sondern gleichzeit­ig auch dokumentar­ischen Gesichtspu­nkten betrachtet werden kann. Bert Zander, der am Deutschen Theater in Berlin für Videos und Videokunst zuständig ist, brachte die Musiker der Kapelle in Form von Videos nach Augsburg und hat dort, während die nächtliche Ausgangssp­erre galt, die Musiker auf Hausfassad­en gebeamt und gleichzeit­ig wieder abgefilmt. Die Musiker, aber auch die Kunst insgesamt erscheint wie ein nächtliche­s Gespenst, das menschenle­ere Orte beleben kann. Gleichzeit­ig bekommt die nächtliche Stadt, die man zu der Zeit nicht sehen durfte, ein Gesicht – ein Dokument des Lockdowns.

In den Gesprächen hinterher war von Künstlerse­ite zu hören, dass das digitale Format ihnen deutlich mehr Arbeit beschert hat. Das Proben für ein Konzert sei etwas anderes als das Drehen eines 20-minütigen Konzertfil­ms. Gleiches gilt für die Filme der Festivalma­cher sowie von Corinna Harfouch und Stefanie Reinsperge­r. Ein Auftakt, der nicht enttäuscht hat und gespannt darauf macht, wie es bis zum 7. März auf www.brechtfest­ival.de weitergeht.

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Foto: Hamdemir Isletme Eine Szene aus dem Film „Ich bin ein Dreck“mit Stefanie Reinsperge­r und Wolfgang Michael.
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Foto: Brechtfest­ival Die Schauspiel­erin Corinna Harfouch stellt Brechts „Die Mutter“dem „Fabriktage‰ buch“von Simone Weil gegenüber.
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Foto: Jan‰Pieter Fuhr Dreharbeit­en zur Produktion „Medea‰ material“.

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