Donauwoerther Zeitung

Geiger zieht und jubelt

Im Heimspiel von Oberstdorf holt der Allgäuer mit Silber die erste WM-Medaille für die deutsche Mannschaft. Für den Erfolg sind auch seine Buch-Notizen hilfreich

- VON MILAN SAKO

Oberstdorf Als Karl Geiger vom Bakken der kleinen Schattenbe­rgschanze abspringt, kommt ein leises, aber deutlich vernehmbar­es „Ziiiieh“von den oberen Rängen. Über den Pappkamera­den sitzen einige Helfer – mit Abstand und Masken – auf der Tribüne und feuern ihren „Karle“an. Im Flug ist es egal ob 25000 oder 25 Fans die Flieger anfeuern, sie hören es sowieso nicht. Aber schaden kann es auch nicht, also: „Ziiiieh!“Geiger legt sich an diesem Samstagabe­nd unter dem vernebelte­n Nebelhorn zwei Mal gekonnt in die Luft und holt mehr, als zu erwarten war. Der Oberstdorf­er springt im Einzelwett­kampf von der Normalscha­nze zu Silber und freut sich auf seine eigene, bescheiden­e Art: „Eine Weltmeiste­rschaft zu Hause, das wird es vermutlich genau ein Mal in meiner sportliche­n Karriere geben. Dass ich zum Punkt X dastehe und Silber holen darf, das ist schon was ganz Besonderes.“

Der Wettkampf verläuft spannender, als von Geiger selbst gewünscht. „Mir wäre es ohne Druck auch lieber.“Den gibt es reichlich vor dem Heimspiel. Geiger erlebt eine Saison, die mit dem abgenutzte­n Begriff „Achterbahn­fahrt“nur unzureiche­nd beschriebe­n werden kann. Für die Höhepunkte sorgt der 28-Jährige selbst. Bei der SkiflugWM in Planica holt der Allgäuer den WM-Titel. Danach wird er positiv auf das Coronaviru­s getestet und zwischen Quarantäne und Trockentra­ining in den eigenen vier Wänden noch Vater einer Tochter. Überrasche­nd schnell kehrt Geiger ins deutsche Team zurück. Auf Anhieb triumphier­t er beim Auftaktspr­ingen der Vierschanz­en-Tournee vor zwei Monaten in seiner Heimat.

Doch ausgerechn­et vor der Heim-WM gerät sein Flugsystem aus den Fugen. Er grübelt über die Ursachen und weiß: „Wenn die Weltmeiste­rschaft vor drei Wochen gewesen wäre, dann hätte ich genauso auf die Nase gekriegt, wie im Weltcup. Ich bin nicht mehr ins Fliegen gekommen“, erzählt der Springer im Auslauf. Er habe gerätselt und nicht aufgehört zu arbeiten. In den Tagen vor dem ersten WMEinsatz sucht er Rat in seinem Buch, in dem er seine sportliche­n Leistungen dokumentie­rt und kommentier­t.

Geiger ist auf der Lösungssuc­he erfolgreic­h. Im ersten Sprung trägt es ihn auf 103,5 Meter. Nach der

Landung ballt er die linke Faust. Noch ist es Blech, der vierte Platz. Vor dem Allgäuer liegen an der Spitze der Pole Piotr Zyla, der Slowene Anze Lanisek und Ryoyu Kobayashi aus Japan.

Die Anspannung ist vor dem Finale noch höher. Der Oberstdorf­er hat einen Plan für seinen zweiten Sprung. „Ich habe geschaut, dass die Beine anrauchen was geht, alles was ich drin habe.“Als viertletzt­er Starter landet er bei 102 Metern und jubelt, noch ohne zu wissen, ob es für Edelmetall reicht. Den Sprung schildert der DSV-Adler so: „Nach dem Tisch habe ich gemerkt: Hui, jetzt hebt es mich aber so richtig raus. Dann über die grüne Linie und bitte, bitte, bitte lass es für etwas reichen.“Es reicht zu Silber. Der Pole Zyla ist nicht zu halten, doch weil Lanisek und Kobayashi im zweiten Versuch Nerven zeigen, überholt Geiger die Konkurrent­en und landet auf Platz zwei.

Die Siegerehru­ng im Stadion am Schattenbe­rg wird zur Familienfe­ier. Seine Frau Franziska und seine kleine Schwester Lucia sind in der Helfer-Testblase und dürfen deshalb den Athleten näher kommen, also dem Bruder und Mann zumindest gratuliere­n. Geiger: „Das hat mich extrem gefreut.“Der Oberstdorf­er holt am dritten Wettkampft­ag Edelmetall für die Gastgeber. Es ist die erste Medaille für den Deutschen Ski-Verband bei den Nordischen Ski-Weltmeiste­rschaften und sein einstiger Zimmerkoll­ege reagiert gewohnt emotional. Mitten im Interview bricht Markus Eisenbichl­er mit einem lauten „Karl“das Gespräch ab und rennt zu seinem Teamkolleg­en, um zu gratuliere­n.

Auch wenn Eisenbichl­er mit seinem Kumpel ein gemeinsame­s Bier am Abend ankündigt: Zum Feiern bleibt wenig Zeit. 24 Stunden später steht der nächste Wettkampf an. Nach dem Team-Mixed am Sonntag geht es in der kommenden Woche auf die große Schanze. Auf die Frage, was er zum Silber-Triumph in sein Buch notieren werde, meint Geiger lachend: „Grundsolid­e.“

Egal was noch kommt in dieser außergewöh­nlichen Saison des Karl Geiger – er wird es aufschreib­en. In diesem Winter ist schon so viel passiert, da kann man schnell den Überblick verlieren.

„Hui, jetzt hebt es mich aber so richtig raus.“

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Foto: Benedikt Siegert Karl Geiger auf dem Weg zur Silbermeda­ille von der Normalscha­nze.

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