Ungerechtes Zwischenzeugnis?
Bayerns Schüler erhalten heute ihren Leistungsschnitt aus einem Corona-Halbjahr voller Unwägbarkeiten. Viele Eltern und Schüler sind sich sicher: Fair sind diese Noten nicht
Augsburg Bayerische Schüler bekommen an diesem Freitag ihre Zwischenzeugnisse. Eigentlich. Das Papier wirklich in Händen halten werden nur Schüler, die auch tatsächlich im Klassenzimmer sitzen – also Abschlussklassen und Kinder aus geteilten Grundschulklassen, die am Zeugnistag Unterricht im Schulhaus haben. Die andere Hälfte der Klasse bekommt am Montag ihr Zeugnis, alle übrigen Schüler per Post. Schließlich lernen immer noch 60 Prozent von ihnen mindestens bis 14. März zu Hause.
Selten war das Zwischenzeugnis so umstritten wie diesmal. Es dokumentiert Leistungen aus einem Halbjahr, in dem Schüler und Lehrer sich nur wenige Wochen persönlich gesehen haben, schriftliche Proben nur sehr eingeschränkt möglich und feste Standards für den Distanzunterricht nicht definiert waren.
Moritz Meusel, Sprecher des bayerischen Landesschülerrats (LSR), ist sich sicher, dass Noten jetzt nicht fair sind. „Die Ungleichheit bei den Noten hat sich in diesem Schuljahr deutlich verschärft“, sagt der Elftklässler aus Bamberg. Nicht jeder Schüler habe dieselben Voraussetzungen für guten Distanzunterricht. Dazu komme, dass man gerade an der Grenze zu Tschechien noch „meilenweit“vom Präsenzunterricht entfernt sei. Der findet nur dann statt, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz kleiner oder gleich 100 ist. „Eine Schülerin in Kaufbeuren darf nur aufgrund ihres Wohnortes eine bessere Vorbereitung genießen als ein Schüler in Tirschenreuth in der Oberpfalz.“Der LSR fordert nicht, auf Noten zu verzichten – sondern den Lehrplan so anzupassen, „dass nur Themen behandelt werden, die auch zu schaffen sind“. Außerdem brauche es einheitliche Standards für den Distanzunterricht.
Johannes Jung hat sich in seinem Leben schon viel mit Noten befasst. Er ist Professor für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Uni Würzburg. „Das Coronavirus ist ein zusätzlicher Faktor, der es erschwert, gerechte Noten zu vergeben. Die Leistung eines Schülers hängt entscheidend davon ab, wie viel Unterstützung er im Elternhaus bekommt“, erklärt Jung. „Außerdem können Kinder die Situation unterschiedlich gut wegstecken.“
In normalen Zeiten würde Jung dafür plädieren, dass Lehrer möglichst viele Möglichkeiten nutzen, ihre Schüler zu beurteilen – damit die einzelne Note keine so große Wirkung hat und nicht mit Bedeutung überladen ist. „Aber dafür ist der Zeitrahmen dieses Jahr zu gering.“Tatsächlich hat das Kultusministerium die Zahl der schriftlichen Proben etwa in der Grundschule deutlich reduziert. Ein Sprecher verweist darauf, dass auch im Distanzunterricht mündliche Leistungsnachweise möglich seien: Kurzreferate etwa, Projektarbeiten oder die Präsentation von Arbeitsergebnissen über Video.
Am 22. Februar ist der Großteil der Grundschüler in den Wechselunterricht zurückgekehrt. Oft folgte – zum Ärger vieler Eltern – schon kurz nach dem Neustart eine schriftliche Probe. Wie gut spiegelt so eine Zensur die Leistung eines Schülers wider? Gar nicht, ist sich eine Initiative von Eltern bayerischer Viertklässler einig. Sie wollen im Corona-Schuljahr allein entscheiden, welche Schulart ihr Kind ab Herbst besucht. Ruth Zeifert, Mutter einer neunjährigen Tochter aus Oberbayern, hat deswegen eine Unterschriftensammlung auf der Online-Plattform Openpetition gestartet. Einen Großteil der Bildungsvermittlung hätten dieses Jahr die Familien übernommen, heißt es da. Deshalb fordert Zeifert, das Übertrittszeugnis im Mai „durch eine kompetente Beratung mit einer nicht bindenden Empfehlung der
Grundschule zu ersetzen“. Diesen sogenannten Elternwillen gibt es schon in vielen Bundesländern.
Pädagogik-Professor Johannes Jung empfiehlt fürs Erste etwas anderes. Grundschullehrer sollten „großzügig sein und eine Leistungsempfehlung für die eine oder andere Schulart abgeben, selbst wenn die Noten nur ungefähr in die passende Richtung gehen“. Eltern legt er jetzt nahe, „die Beurteilungen mit größerer Gelassenheit zu sehen. Lehrer sollten versuchen, eine Rückmeldung zu geben und gleichzeitig zu vermitteln: ,Nehmt die Sache nicht so ernst, das Zeugnis ist nicht mehr als ein kleiner Ausschnitt.‘“Doch das funktioniert natürlich nur, wenn die Noten auch von offizieller Seite großzügiger gewertet werden. Zumindest mit Blick aufs „Durchfallen“hat das Kultusministerium das schon versprochen. Wegen Corona sollen Schulen großzügig die Möglichkeit nutzen, Kinder und Jugendliche auf Probe vorrücken zu lassen.
Übrigens: Einen Satz könnten Schüler dieses Jahr zum ersten Mal in ihrem Zwischenzeugnis lesen. „Im Fach XY konnten pandemiebedingt noch nicht genügend Leistungsnachweise für eine aussagekräftige Zeugnisnote erhoben werden.“Bleibt zu hoffen, dass es beim Jahreszeugnis im Juli anders ist.