Die Gefühlswelt des jungen Karl
Vor dem letzten WM-Einzelwettkampf spricht Karl Geiger über emotionale Extremsituationen, über Nackenschläge und Sternstunden. Der 28-jährige Oberstdorfer hat einen Weg gefunden, diese Ausreißer einzuordnen
Oberstdorf Er hat gelernt, Extreme einzuordnen – Nackenschläge wie Triumphe, Ausrutscher wie Sternstunden seiner Karriere zu kanalisieren. Karl Geiger hat einen Weg gefunden, emotionale Ausreißer in beide Richtungen für sich zu nutzen. „Während der WM bleibt kaum Zeit, all das setzen zu lassen, was hier vor sich geht. Die schwierige Zeit, wenn man hadert. Die Lichtblicke, wenn man hofft“, sagt der 28-Jährige. „Es ist so unheimlich viel passiert in diesem Winter. Und es geht ja noch weiter.“
Denn vor der letzten Entscheidung der Skispringer bei der Nordischen Ski-WM am Freitag auf der Normalschanze (Hillsize: 137 Meter) ist der Oberstdorfer wieder jäh der Hoffnungsträger – immerhin hatte alleine Geiger maßgeblichen Anteil an zwei der drei Medaillen, die das deutsche Team bisher bei den Titelkämpfen im südlichen Oberallgäu gewonnen hat.
„So war das alles überhaupt nicht abzusehen“, hatte Geiger bereits nach seinem überraschenden Gewinn der WM-Silbermedaille auf der Normalschanze gesagt – nicht wissend, dass „das emotional absolut Brutalste, das ich seit ganz langer Zeit erlebt habe“, der Gewinn des WM-Titels im Mixed, noch kommen sollte. „Es ist wichtig zu verstehen, in welcher Ausgangslage wir waren. Niemand hat Deutschland auf dem Zettel gehabt, aber auf einmal haben die anderen Nationen zu murksen angefangen“, erinnert sich Geiger. „Wir sind den Schritt in die richtige Richtung gegangen und ab dann hat das Ganze so eine Fahrt aufgenommen, das war unglaublich.“
Auch für die Journalisten an der Schanze war mit jedem Athleten, der in den Auslauf trudelte, spürbar, dass sich innerhalb des Wettkampfs eine Dynamik verselbstständigte, die sich Sprung für Sprung zugunsten des deutschen Quartetts steigern sollte. War das DSV-Team noch als Außenseiter in den Mixed-Wettkampf gegangen, wendete sich das Blatt minütlich. Bis Geiger an der Reihe war und Gold sicherte. „Normalerweise kann ich mich vor dem Springen ganz gut in einen Tunnel begeben“, sagt Karl Geiger. „Aber im Finale habe ich gespürt, dass gerade Einmaliges passiert. Wir waren auf einmal im Flow.“
Und mit dieser Dynamik gewannen auch alle Beobachter an der Schattenbergschanze an jenem Sonntag zunehmend den Eindruck, als ruhten nicht nur die Hoffnungen der Skisprung-Nation einmal mehr auf Geiger – auch den Kollegen Katharina Althaus, Anna Rupprecht und Markus Eisenbichler schienen die breiten Schultern des 1,85 Meter großen Vorzeigespringers auf einen Schlag wieder als Stütze zu dienen. „Wir alle sind über uns hinausgewachsen“, erinnert sich der Athlet vom SC Oberstdorf. „Wir wurden besser, bei den anderen war Totenstille. Ein solches Erlebnis bewegt dich für lange Zeit.“
In einem Winter, für den der Titel „Achterbahnfahrt der Gefühle“für Geiger eine kolossale Verharmlosung ist. Deutschlands Nummer eins krönte sich im SkiflugMekka Planica furios zum Weltmeister, wurde wenige Tage darauf Vater – nur wenige Tage nach der Geburt seiner Tochter Luisa musste er nach positivem CoronaTest in Quarantäne, um diese wiederum einen Tag vor dem Auftaktspringen der Vierschanzentournee zu verlassen. 24 Stunden später sprang er auf seiner Heimschanze zum Sieg. Nach durchwachsenen Wochen im Weltcup, in denen er in Klingenthal zweimal den zweiten Durchgang verpasste, näherte sich Geiger auf den Punkt wieder seiner Form. Und war zur WM wieder da.
„Im Soll“, „auf Kurs“, „was Medaillen betrifft, voll im Plan“sind keine Maßstäbe, die Karl Geiger an seine Arbeit legt. „Ehrlich gesagt ist die WM schon jetzt geil – so, wie sie bisher gelaufen ist“, sagt Karl Geiger. „Alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe. Das ist immer eine Frage der Perspektive.“Wobei der 28-Jährige, was die Medaillenvergabe betrifft, sicher nichts dagegen hätte, alleine seine Schwester vor dem Ende der Titelkämpfe noch einmal zu treffen. Schließlich serviert Lucia Geiger als Helferin im Organisationskomitee die Medaillenteller bei der Zeremonie der Sieger. Vielleicht trifft er sie sogar noch zwei Mal.