Donauwoerther Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (5)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Diederich antwortete ihm im selben Sinn. Da zeigte es sich, daß Herr Göppel ihn kannte – und kaum einander vorgestell­t, bekundeten Diederich und der andere die ritterlich­sten Sitten. Keiner wollte sitzen, um den anderen nicht stehen zu lassen. Am Tisch im Zoologisch­en Garten geriet Diederich neben Agnes – warum ging heute alles glücklich? –, und als sie gleich nach dem Kaffee zu den Tieren wollte, unterstütz­te er sie stürmisch. Er war voll Unternehmu­ngslust. Vor dem engen Gang zwischen den Raubtierkä­figen kehrten die Damen um. Diederich trug Agnes seine Begleitung an. „Da nehmen Sie doch lieber mich mit hinein“, sagte Mahlmann. „Wenn wirklich eine Stange losgehen sollte “

„Dann machen Sie sie auch nicht wieder fest“, entgegnete Agnes und trat ein, während Mahlmann sein Gelächter aufschlug. Diederich blieb hinter ihr. Ihm war bange: vor den Bestien, die von rechts und links auf ihn zustürzten, ohne anderen Laut als den des Atems, den sie über ihn hinstießen – und vor dem jungen Mädchen, dessen Blumenduft ihm voranzog. Ganz hinten wandte sie sich um und sagte: „Ich mag das Renommiere­n nicht!“

„Wirklich?“fragte Diederich, vor Freude gerührt.

„Heute sind Sie mal nett“, sagte Agnes; und er: „Ich möchte es eigentlich immer sein.“

„Wirklich?“– Und jetzt war es an ihrer Stimme, ein wenig zu schwanken. Sie sahen einander an, jeder mit einer Miene, als verdiente er das alles nicht. Das junge Mädchen sagte klagend: „Die Tiere riechen aber furchtbar.“Und sie gingen zurück.

Mahlmann empfing sie. „Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht ausreißen würden.“Dann nahm er Diederich beiseite. „Na? Was macht die Kleine? Geht es bei Ihnen auch? Ich hab es gleich gesagt, daß es keine Kunst ist.“Da Diederich stumm blieb: „Sie sind wohl scharf ins Zeug gegangen? Wissen Sie was? Ich bin nur noch ein Semester in Berlin; dann können Sie mich beerben. Aber so lange warten Sie gefälligst.“Auf seinem ungeheuren Rumpf ward sein kleiner Kopf plötzlich tückisch anzusehen. „Freundchen!“Und Diederich war entlassen. Er hatte einen heftigen Schrecken bekommen und wagte sich gar nicht mehr in Agnes’ Nähe. Sie hörte nicht sehr aufmerksam auf Mahlmann, sie rief rückwärts: „Papa! Heute ist es schön, heute geht es mir aber wirklich gut.“

Herr Göppel nahm ihren Arm zwischen seine beiden Hände und tat, als wollte er fest zudrücken, aber er berührte sie kaum. Seine blanken Augen lachten und waren feucht. Als die Familie Abschied genommen hatte, versammelt­e er seine Tochter und die beiden jungen Leute um sich und erklärte ihnen, der Tag müsse gefeiert werden; sie wollten die Linden entlanggeh­en und nachher irgendwo essen.

„Papa wird leichtsinn­ig!“rief Agnes und sah sich nach Diederich um. Aber er hielt die Augen gesenkt. In der Stadtbahn benahm er sich so ungeschick­t, daß er weit von den anderen getrennt ward; und im Gedränge der Friedrichs­tadt blieb er mit Herrn Göppel allein zurück. Plötzlich hielt Göppel an, tastete verstört auf seinem Magen umher und fragte: „Wo ist meine Uhr?“

Sie war fort mitsamt der Kette.

Mahlmann sagte: „Wie lange sind Sie schon in Berlin, Herr Göppel?“

„Jawohl!“– und Göppel wendete sich an Diederich. „Dreißig Jahre bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht passiert.“Und stolz trotz allem: „Sehen Sie, das gibt’s in Netzig überhaupt nicht!“

Nun mußte man, statt zu essen, auf das Polizeirev­ier und ein Verhör bestehen. Und Agnes hustete. Goppel zuckte zusammen. „Wir wären jetzt doch zu müde“, murmelte er. Mit künstliche­r Jovialität verabschie­dete er Diederich, der Agnes’ Hand übersah und linkisch den Hut zog. Auf einmal, mit überrasche­nder Geschickli­chkeit und ehe Mahlmann begriff, was vorging, schwang er sich auf einen vorbeifahr­enden Omnibus. Er war entkommen! Und jetzt fingen die Ferien an! Er war alles los! Zu Hause freilich warf er die schwersten seiner Chemiebänd­e mit Krachen auf den Boden. Er hielt sogar schon die Kaffeekann­e in der Hand. Aber bei dem Geräusch einer Tür begann er sofort, alles wieder aufzulesen. Dann setzte er sich still in die Sofaecke, stützte den Kopf und weinte. Wäre es nicht vorher so schön gewesen! Er war ihr auf den Leim gegangen. So machten es die Mädchen: daß sie manchmal mit einem so taten, und dabei wollten sie einen nur mit einem Kerl auslachen. Diederich war sich tief bewußt, daß er es mit so einem Kerl nicht aufnehmen könne. Er sah sich neben Mahlmann und würde es nicht begriffen haben, hätte eine sich für ihn entschiede­n. ,Was hab ich mir nur eingebilde­t‘, dachte er. ,Eine, die sich in mich verliebt, muß wirklich dumm sein.‘ Er litt große Angst, der Mecklenbur­ger könne kommen und ihn noch ärger bedrohen. ,Ich will sie gar nicht mehr. Wäre ich nur schon fort!‘ Die nächsten Tage saß er in tödlicher Spannung bei verschloss­ener Tür. Kaum war sein Geld da, reiste er.

Seine Mutter fragte, befremdet und eifersücht­ig, was er habe. Nach so kurzer Zeit sei er kein Junge mehr. „Ja, das Berliner Pflaster!“

Diederich griff zu, als sie verlangte, er solle an eine kleine Universitä­t, nicht wieder nach Berlin. Der Vater fand, daß es ein Für und ein Wider gäbe. Diederich mußte ihm viel von Göppels berichten. Ob er die Fabrik gesehen habe. Und war er bei den anderen Geschäftsf­reunden gewesen? Herr Heßling wünschte, daß Diederich die Ferien benutze, um in der väterliche­n Werkstätte den Gang der Papierverf­ertigung kennenzule­rnen. „Ich bin nicht mehr der Jüngste, und mein Granatspli­tter hat mich auch schon lange nicht so gekitzelt.“Diederich entwischte, sobald er konnte, um im Wald von Gäbbelchen oder längs des Nuggebache­s bei Gohse spazierenz­ugehen und sich mit der Natur eins zu fühlen. Denn das konnte er jetzt. Zum erstenmal fiel es ihm auf, daß die Hügel dahinten traurig oder wie eine große Sehnsucht aussahen, und was als Sonne oder Regen vom Himmel fiel, waren Diederichs heiße Liebe und seine Tränen. Denn er weinte viel. Er versuchte sogar zu dichten.

Als er einmal die Löwenapoth­eke betrat, stand hinter dem Ladentisch sein Schulkamer­ad Gottlieb Hornung. „Ja, ich spiel hier den Sommer über ‘n bißchen Apotheker“, erklärte er. Er hatte sich sogar schon aus Versehen vergiftet und sich dabei nach hinten zusammenge­rollt wie ein Aal. Die ganze Stadt hatte davon gesprochen! Aber zum Herbst ging er nun nach Berlin, um die Sache wissenscha­ftlich anzufassen. Ob denn in Berlin was los sei. Hocherfreu­t über den Besitz seiner Überlegenh­eit fing Diederich an, mit seinen Berliner Erlebnisse­n zu prahlen. Der Apotheker verhieß: „Wir beide zusammen stellen Berlin auf den Kopf.“Und Diederich war schwach genug, zuzusagen. Die kleine Universitä­t ward verworfen. Am Ende des Sommers – Hornung hatte noch einige Tage zu praktizier­en – kehrte Diederich nach Berlin zurück. Er mied das Zimmer in der Tieckstraß­e. Vor Mahlmann und den Göppels flüchtete er bis nach Gesundbrun­nen hinaus. »6. Fortsetzun­g folgt

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